Das Dorf ist ein Mikrokosmos. Das Personal ist überschaubar, die Konflikte sind es auch. Das bedeutet aber nicht, dass es hier friedlicher zugehen würde als andernorts. Auch die Dorfwelt verändert sich ständig, und wer glaubt, auf dem Land gewissermaßen aus der Zeitgeschichte austreten und in die Idylle eintreten zu können, hat sich gründlich getäuscht. Die Regeln kapitalistischer Profitmaximierung gelten auch hier, und die Leichen, die im Keller oder auf den Feldern herumliegen, lassen sich auf Dauer nicht verbergen.
"Unterleuten" heißt das fiktive Dorf in der Prignitz im westlichen Brandenburg, das dem neuen, voluminösen Roman von Juli Zeh den Titel gegeben hat. Zehn Jahre hat sie angeblich daran gearbeitet. Und der Name ist Programm: Einsamkeit ist anderswo. In diesem Örtchen ist man unter Leuten, und die sind allesamt sehr seltsam und sich außerdem spinnefeind.
Unterleuten hat, wie alle Dörfer im Osten, Anfang der Sechzigerjahre Zwangskollektivierung, Enteignung und Umwandlung der Güter in eine LPG erlebt, hat die Wende als neuerlichen Schock überstanden, als neuerliche Enteignung, die der einstige Großbauer für sich zu nutzen verstand, indem er aus der LPG seine eigene GmbH gemacht hat. Will man es ihm vorwerfen? Immerhin hat er den Betrieb auf diese Weise erhalten und damit auch das Zentrum des Dorfes nebst Arbeitsplätzen. Biobauer ist er zudem, aber das hat nicht viel zu bedeuten, es ist nur ein Geschäftsmodell.
Die Einheimischen gingen, es kamen die Zivilisationsmüden und die Windpark-Betreiber
Dass es Neider gibt und alte, verbitterte Kommunisten, die die neue Zeit verachten, ist klar. Gesellschaftliche Widersprüche auf dem Dorf sind elementar und werden ganz direkt von Mann zu Mann ausgetragen. Macht ist hier etwas, was sich unmittelbar verkörpert. Und so ist dieser Bauer ein schwerer, korpulenter Mann mit müdem Hundegesicht, der nicht versteht, warum alle ihn hassen, wo er doch so viel Gutes tut.
Zwanzig Jahre später - der Roman spielt 2010 - hat sich die Dorfwelt erneut verändert, denn jetzt leben da auf einmal all die Zuzügler aus Berlin, Großstadtflüchter und Naturnaivlinge, die weder mit der DDR-Geschichte (und den zugehörigen Leichen) noch mit dem Landleben wirklich etwas zu tun haben.
Um zwei exemplarische Paare handelt es sich dabei: einen Akademiker-Aussteiger, der als Karikatur seiner selbst zum übellaunigen Vogelschützer mutiert ist, und seine junge Frau, die nichts anderes als das Wohl des Säuglings im Blick hat. Außerdem gibt es eine sehr toughe Pferdenärrin, die sich in den Kopf gesetzt hat, eine Art Pferdehotel für Großstädter zu schaffen. Sie wird begleitet von ihrem langhaarigen Freund, der in der Computerspielbranche sein Geld verdient. Und dann ist da noch ein schwerreicher Investor aus Bayern, der Land einfach nur deshalb kauft, weil er es kann und die Zeit hat zu warten, bis die nächste Shoppingmall, Tankstelle oder aber - wie in diesem Fall - ein Windpark errichtet werden soll.
Sprachlabor (286):Hartnäckige Leser
Manche Leser weisen uns immer wieder mit Sachkunde auf sprachliche Fehler hin. So auch Leser K., ein ehemaliger Schulmann, der sich mit seinem Einwand zum Wort "seit" nicht nur an uns, sondern auch an ein Ministerium und den BR gewendet hat.
Keine Nazis, keine Flüchtlingsproblematik
Damit ist alles angerichtet für den Krieg auf dem Land, in dem es um Nutzflächen, Windräder und viel Geld, aber auch um DDR-Geschichte, Ehefrustrationen, Abhängigkeiten und einfach nur um Neurosen und Verrücktheiten geht, wie sie auf dem Dorf ja auch blühen: so wie bei der kleinen dürren Frau mit den unzähligen Katzen, die als Geliebte des Großbauern gilt und praktischerweise direkt neben ihm wohnt.
Oder bei dem erfolglosen Dramatiker, der seine Ideenlosigkeit durch verbissenes, tägliches Rasenmähen zu kompensieren sucht. Für Unterleuten spricht allerdings, dass es hier keinen einzigen Nazi oder andere Rechtsradikale gibt, keine Flüchtlingsproblematik, keine Fremdenfeindlichkeit. Wie auch - wenn das Dorf zur Hälfte aus Berlin-Zuzüglern besteht. Und vielleicht ist das Jahr 2010 von heute aus gesehen eine friedlichere Vorzeit.
Die Figuren sind keine Abziehbilder
Juli Zeh erzählt kapitelweise in wechselnden Perspektiven. Da ist zwar immer die auktoriale, allwissende Erzählerin (die sich in einem Schlusskapitel als Journalistin zu erkennen gibt), doch indem sie allen Figuren reihum nahe zu kommen versucht, gelingt es ihr, sie aus der Innen- und Außenperspektive zu zeigen, sodass sie mal massiv unsympathisch, mal vom Schicksal gezeichnet und höchst bemitleidenswert wirken.
Diese Sichtwechsel machen den Reiz des Romans aus und lassen nach und nach komplexe Figuren entstehen, die mehr sind als die Abziehbilder, als die sie zwischenzeitlich auch erscheinen. Juli Zeh setzt ganz auf Handlung und Psychologie, aber ohne zu erklären und auszudeuten: Warum die Menschen so sind, wie sie sind, so bitter, so schweigsam, so naiv, muss jeder Leser aus den einzelnen Mosaikteilchen herauslesen.
Brandenburg als die Erweiterung Berlins
Sprachlich ist "Unterleuten" einfach und konventionell gestrickt, geschrieben in einem ungebrochenen Vertrauen auf realistische Erzählweise, wie sie vielleicht nur noch diese Erzählerin (mit Namen Lucy Finkbeiner) aufbringt. Sätze wie "Jule schaute auf", "Ich halte das nicht mehr aus" oder "Gerhard bemühte sich, seiner Stimme einen sicheren Halt zu geben", lesen sich wie schlichte Kolportage, und das ist der Sache ja auch durchaus angemessen.
Schließlich ist das Dorf nicht die Heimat ästhetischer Avantgarde. "Unterleuten" ist ein Kriminalroman, indem tatsächlich auch ein Mord aufgedeckt wird und Gewalt alltäglich ist. Dass die promovierte Juristin Juli Zeh sich für Kriminal-Handlungen interessiert, hat sie bereits in ihrem Debütroman "Adler und Engel" (2001) oder in "Schilf" (2007) bewiesen. Wie man Cliffhanger baut und Spannung produziert, weiß sie auch.
Es könnte sein, dass Gesellschaftsromane überhaupt nur noch als Dorfromane möglich sind. Saša Stanišić hat mit "Vor dem Fest" gezeigt, was in diesem Genre möglich ist, und selbst die Berlin-Romane der Gegenwart, wie jüngst bei Roland Schimmelpfennig, tendieren dazu, die Großstadt ins Brandenburgische hinein zu erweitern. Vielleicht arbeitet die Literatur da der politisch gescheiterten Länderfusion voraus, die eines Tages kommen wird, weil Brandenburg dann sowieso von Berlinern bevölkert ist, während die Einheimischen das Land in Richtung Westen verlassen haben. Juli Zeh weiß, wovon sie spricht. Sie lebt seit einigen Jahren in einem Dorf im Havelland.