Türkisches Tagebuch (VII):Die Hexenjagd hat begonnen - SOS!

Lesezeit: 3 Min.

Wer die Pressefreiheit für sich in Anspruch nimmt, lebt gefährlich: Anhänger des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan attackieren Journalisten in Ankara. (Foto: AP)

Nach den Haftbefehlen gegen 42 Journalisten ist es dringend an der Zeit, einen Notruf an die Kollegen in demokratischen Ländern zu richten.

Gastbeitrag von Yavuz Baydar

Gestern morgen wurde ich sehr früh durch ein "Pling" geweckt. Ein Kollege hatte eine SMS geschickt: "Anscheinend geht der Großangriff los. Haftbefehl für Nazlı Ilıcak, sie suchen nach ihr." Das war das, was viele Journalisten seit Tagen befürchtet hatten. Nazlı Ilıcak ist mit ihren 72 Jahren eine Veteranin. Eine scharfzüngige Journalistin, die gerade erst durch die Schließung der liberalen Tageszeitung Özgür Düşünce ihren Job verloren hat.

Ich sprang aus dem Bett und versuchte, verschiedene Anwälte anzurufen. Bald war klar: Es kursiert eine Liste mit den Namen von 42 Journalisten, die alle verhaftet werden sollen, weil ihnen vorgeworfen wird, dem "medialen Ableger der Terrororganisation FETÖ" ( Fethullahçı Terör Örgütü, zu Deutsch: Terror-Organisation der Fethullah-Anhänger, Anm. d. Red.) anzugehören, was bedeutet, dass sie angeblich der Gülen-Bewegung nahestehen. Die befürchtete Hexenjagd hat begonnen.

Während ich dies schreibe, sind mindestens 19 der 42 entweder verhaftet worden oder sie haben sich freiwillig gestellt. Wo Ilıcak gerade ist, wissen wir nicht. Elf Kollegen sind anscheinend im Ausland.

Die Liste ist bemerkenswert. Sie liest sich wie ein Who's who des seriösen Journalismus. Die meisten der Gesuchten sind mutige Reporter, von der Rechten wie von der Linken, sie alle haben über Korruption, Machtmissbrauch und den Niedergang der Demokratie recherchiert.

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Büşra Erdal etwa, die für die mittlerweile geschlossene Tageszeitung Zaman gearbeitet hat, schrieb über Gerichtsverfahren und unser Rechtssystem. Bülent Muma flog kürzlich bei Hürriyet raus. Er ist ein durch und durch säkularer Kollege, der den Internetauftritt der Tageszeitung verantwortete und vermutet, dass er entlassen wurde, weil er auf Twitter kritische Fragen stellte. Er hat gestern ein Foto seines Presseausweises gepostet, der vom türkischen Journalistenverband ausgestellt worden ist, und geschrieben: "Das ist die einzige Organisation, der ich angehöre. Ich kenne keine andere. Ich kenne auch keinen anderen Beruf. Ich werde jetzt zur Staatsanwaltschaft gehen, um das zu Protokoll zu geben."

Oder nehmen Sie Fatih Yağmur. Ein brillanter junger Reporter, der im März 2014 aufdeckte, dass syrische Dschihadisten von Lastwagen des türkischen Geheimdienstes mit Waffen beliefert wurden. Yağmur wurde kurz nach diesem Scoop ohne Angabe von Gründen von der Tageszeitung Radikal entlassen. Kurz nachdem gestern die Hetzjagd begonnen hatte, twitterte er: "Ich höre, dass gegen mich ein Haftbefehl ausgestellt wurde. Anscheinend hat es nicht gereicht, mich durch Arbeitslosigkeit zu bestrafen. Ich stelle jetzt mein Telefon ab. Ich werde mich nicht stellen, bis der Ausnahmezustand aufgehoben wurde."

Ufuk Şanlı, der früher für Zaman gearbeitet hat und später für (die mittlerweile stramm linientreue AKP-Zeitung) Sabah, twitterte: "Ich verstehe es so, dass die Verhaftungen Journalisten betreffen, die die Korruptionsvorwürfe gegen Erdoğan und die AKP-Granden vom vergangenen Dezember untersucht und kommentiert haben. Deshalb steht da auch mein Name." Er fügte hinzu: "Ich bin seit 15 Jahren Journalist und seit zehn Monaten arbeitslos. Ich möchte, dass jeder weiß, dass ich in der ganzen Zeit ausschließlich journalistisch gearbeitet habe. Ich glaube an die Demokratie. Seien Sie misstrauisch, wenn Sie anderes hören sollten."

Die seltsame Liste spricht eine deutliche Sprache: Es werden nicht so sehr die Kolumnisten gejagt, sondern die mutigen Reporter, die Geschichten aufdecken. Das Ganze ist ein weiterer schwerer Schlag gegen den investigativen Journalismus.

Es ist an der Zeit, dass wir einen Notruf an all unsere Kollegen in demokratischen Ländern richten. Solange es keine Zusagen hinsichtlich der Pressefreiheit gibt, wird dieser Generalangriff auf die Medien andauern. Unser ganzer Berufsstand sollte sehr genau auf die Entwicklung der nächsten Wochen sehen. Alle unabhängigen türkischen Journalisten, die das Schlimmste befürchten, haben meines Erachtens leider recht damit.

Und hier die Liste der 42 Kollegen:

Abdullah Abdulkadiroğlu, Abdullah Kılıç, Ahmet Dönmez, Ali Akkuş, Arda Akın, Nazlı Ilıcak, Bayram Kaya, Bilal Şahin, Bülent Ceyhan, Bülent Mumay, Bünyamin Köseli, Cemal Azmi Kalyoncu, Cevheri Güven, Cihan Acar, Cuma Ulus, Emre Soncan, Ercan Gün, Erkan Akkuş, Ertuğrul Erbaş, Fatih Akalan, Fatih Yağmur, Habib Güler, Hanım Büşra Erdal, Haşim Söylemez, Hüseyin Aydın, İbrahim Balta, Kamil Maman, Kerim Gün, Levent Kenes, Mahmut Hazar, Mehmet Gündem, Metin Yıkar, Muhammet Fatih Uğur, Mustafa Erkan Acar, Mürsel Genç, Selahattin Sevi, Seyit Kılıç, Turan Görüryılmaz, Ufuk Şanlı, Ufuk Emin Köroğlu, Yakup Sağlam, Yakup Çetin.

© SZ vom 26.07.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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