"Tschick":Stresserprobte Filmschweine in der deutschen Provinz

Lesezeit: 7 min

Maik (Tristan Göbel, links) und Tschick (Anand Batbileg) in Aktion. (Foto: Studiocanal GmbH)

Der Regisseur Fatih Akin verfilmt den Bestseller "Tschick" als wildes Roadmovie. Ein Besuch bei den nächtlichen Dreharbeiten in Magdeburg.

Reportage von Nicolas Freund

Blaulichter spiegeln sich auf dem nassen, dunklen Asphalt, ineinander verkeilt liegen ein abgerockter Lada und ein Laster quer auf der Fahrbahn, daneben stehen Schweine. Der Unfall ist nicht echt, die Schweine sind es auch nicht alle: sowohl Plastikschweine als auch stresserprobte Filmschweine kommen bei diesem nächtlichen Dreh zum Einsatz. Die Tiertrainer erklären: "Zwei der Schweine sind ja auch am Theater."

Die echten Tiere pflügen gerade mehrere Quadratmeter Grünstreifen um, eine kleinere Gruppe geht auf Erkundungstour. Weit kommen sie nicht: Um den verunglückten Schweinetransporter wurde auf Knöchelhöhe ein Elektrodrahtzaun gelegt, außerdem blockieren Krankenwagen, Feuerwehrautos und Laster voller Scheinwerfer, Kabel und Requisiten die Fahrbahn.

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Hier, auf einem gesperrten Autobahnstück bei Magdeburg, dreht der Regisseur Fatih Akin das Roadmovie "Tschick" nach dem Bestseller von Wolfgang Herrndorf. Das Buch erschien 2010 und machte Herrndorf zu einem gefeierten Schriftsteller. Mit Ende dreißig erst hatte sich der Maler entschieden, nicht mehr mit Bildern, sondern mit Worten zu arbeiten. "Tschick" war sein zweiter Roman, davor hatte er den Poproman "In Plüschgewittern" und einige Erzählungen veröffentlicht. Im Jahr seines großen Erfolgs wurde bei ihm Krebs diagnostiziert. Ein bösartiger Tumor wuchs in seinem Kopf. Trotzdem folgten noch der Roman "Sand", das Tagebuch "Arbeit und Struktur" und das Romanfragment "Bilder deiner großen Liebe", eine Art Fortsetzung von "Tschick". Die letzten Bücher erschienen posthum. "Tschick" ist inzwischen Schullektüre. Im Sommer 2013 tötete Herrndorf sich selbst. Für die Verfilmung seines großen Erfolges gab er noch sein Einverständnis.

Verfilmung eines Kultbuches

Maik Klingenberg und sein prolliger Russen-Freund Tschick, die Helden des Romans, sind gerade mal vierzehn und brettern während der Sommerferien in einem geklauten Lada durch die deutsche Provinz. Jugendbuch, Roadmovie, Coming-of-Age-Story und Abenteuerroman in einem, erzählt in einer mitreißenden Sprache, die mit großer Lässigkeit abhandelt, wie es eigentlich so ist, heute in Deutschland zu leben. Als könne man das einfach von den Autobahnschildern ablesen. Nur, wie verfilmt man ein solches Buch, das so viele leidenschaftliche Fans hat?

"Das Buch hat ja auch so etwas Urdeutsches", meint Produzentin Susa Kusche. "So etwas hat man nicht so oft, alle zehn bis fünfzehn Jahre vielleicht." Sie hat Erfahrung mit der Umsetzung von Jugendbüchern, unter anderem war sie an der Kinoneuauflage von "Tom Sawyer" beteiligt. Susa Kusche und Produktionspartner Marco Mehlitz sitzen in einem Zelt wenige Kilometer von der Stelle entfernt, an der am Abend der Unfall mit dem Schweinetransporter gedreht wird.

Falls sich schon mal jemand auf einer langweiligen Autofahrt gefragt hat, ob es eigentlich so etwas wie ein Ende der Autobahn gibt: ja, gibt es, hier bei Magdeburg ist es. Abrupt endet nach einer letzten Ausfahrt der Asphalt. Danach kommt Wiese. Hier hat die Filmcrew das Basislager aus Zelten und Wohnwagen aufgebaut. Das große Aufenthaltszelt wird angeblich beheizt, aber ein überdimensionierter Lüftungsschlauch bläst nur eiskalte Luft ins Innere. Obwohl der Film im Sommer spielt, wird diese Szene als eine der letzten im November gedreht. Marco Mehlitz hat ebenfalls Erfahrung mit Jugendfilmen, für "Rico, Oskar und die Tieferschatten" war er als Produzent tätig. In seinem Portfolio finden sich aber auch Filme wie David Cronenbergs Psychoanalyse-Thriller "Eine dunkle Begierde".

Orte, die es so nicht gibt

Auf was achtet man als Filmproduzent, wenn man ein Kultbuch wie "Tschick" verfilmt? "Herrndorf arbeitet auf den einzelnen Stationen der Reise mit Bildern, die uns normal und irgendwie vertraut erscheinen. Die Müllkippe zum Beispiel oder das verlassene Dorf. Damit spielt er aber, denn wenn man genau hinsieht, merkt man, dass es diese Orte so gerade nicht gibt." Susa Kusche ergänzt: "Schon das Haus, in dem Maik lebt. Eine Villa mit Pool in der Nähe von Berlin-Marzahn: Das gibt es einfach nicht. Auch Müllkippen gibt es so frei zugänglich eigentlich nicht mehr. Das haben wir bei der Motivsuche ganz schnell gemerkt."

Ein weiteres Problem bei vielen Romanverfilmungen ist die subjektive Perspektive, aus der im Buch erzählt wird, die sich in Filmbildern nicht so leicht imitieren lässt. Susa Kusche sieht darin auch eine Chance: "Deshalb war uns wichtig, dass die Schauspieler im Alter ihrer Figuren sind und nicht ältere Schauspieler jüngere Figuren spielen. Szenen wie die, in der die Jugendlichen mit einem geklauten Auto auf der Autobahn unterwegs sind, hätte das kaputt gemacht.

Das hätte dann einfach nicht so gefährlich ausgesehen." In dieser Nacht steht die Szene an, in der sich Maik und Tschick nach dem Unfall trennen. Das kann man verraten, denn der Film beginnt mit dieser Szene und der Roman setzt kurz danach auf der Autobahnpolizeistation ein. Vor dem gut gekühlten Aufenthaltszelt gibt es Catering für die Crew, vegetarische Lasagne oder Schweinegulasch, auf das viele heute verzichten. Bei allen Anwesenden leuchten die Augen ein kleines bisschen, wenn von den Schweinen die Rede ist. Noch nicht dabei sind Regisseur Fatih Akin und die Hauptdarsteller Anand Batbileg und Tristan Göbel. Die Jungs müssen geschminkt werden, Akin hat sich in einen Wohnwagen verzogen, um die Szene zu planen. Stören ist strengstens verboten.

Der deutsch-türkische Autorenfilmer Fatih Akin ist erst spät dazu gestoßen - dabei wäre er eine naheliegende Wahl gewesen. Mit dem Drama "Gegen die Wand" hatte er 2004 seinen großen Erfolg, er hat das Roadmovie "Im Juli" und die Komödie "Soul Kitchen" gedreht. Sein bisher letzter Film "The Cut" war ein zweieinhalb Stunden langes Epos über den Genozid an den Armeniern, sechzehn Millionen Euro teuer, gedreht in Jordanien, Kanada, Deutschland und Malta. Beim Publikum und bei der Kritik kam "The Cut" nicht gut an. Musste deshalb jetzt der Schritt zurück in die deutsche Provinz folgen?

Für Akin ist "Tschick" die erste Auftragsarbeit und die erste Literaturverfilmung. David Wnendt war eigentlich als Regisseur für das Projekt gebucht, obwohl Akin sich schon seit 2011 um die Rechte an dem Roman bemüht hatte. Wnendt, der mit seiner Verfilmung von Charlotte Roches "Feuchtgebiete" bekannt wurde, trat aber nie an, weil sich die Dreharbeiten seines Films "Er ist wieder da" in die Länge zogen. Gerüchten zufolge sollen die Meinungen der Beteiligten auch künstlerisch auseinandergegangen sein. Als Akin den Job übernahm, wurde das Drehbuch komplett überarbeitet, die Coming-of-Age-Geschichte steht jetzt stärker im Vordergrund.

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Als es dunkel wird, geht es mit einem Shuttlebus über die leere Autobahn ans Set. Die Szene wird rötlich ausgeleuchtet. Jemand spritzt den Asphalt nass. Ein Kamerateam aus Berlin filmt die toten Plastikschweine für einen Bericht auf ihrem Youtube-Kanal. Die Hauptdarsteller Tristan Göbel und Anand Batbileg sitzen am Straßenrand, üben ihren Text und für die nächste Szene, wie man eine Zigarette möglichst lässig ausdrückt. Der niedrige Schweinezaun hält mehr Filmmenschen als Filmschweine auf. Ein weiß gekleideter Schaulustiger auf dem Hügel gegenüber schwebt wie ein Gespenst über allem.

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Der Dialog zwischen den beiden Jungen ist bald im Kasten, die aufwendigste Szene des Abends steht gleich an: Tschick ist weg, Tristan als Maik humpelt auf den Krankenwagen zu, Dutzende echte Feuerwehrleute, Polizisten und Sanitäter hetzen durch die Gegend und treiben die Schweine zusammen. Mit einem Kran lässt Akin die ganze Szene auch von oben filmen. Oft geht etwas schief, die Feuerwehrleute kommen zu spät, die Sanitäter zu früh oder Tristan geht zu langsam. Der Druck ist hoch: Mehr als ein halbes Dutzend Mal kann die Szene nicht gedreht werden, denn bei Kindern (und Tieren) sind die Auflagen streng. Tristan und Anand müssen die Dreharbeiten immer irgendwie zwischen die Schultage legen. Tristans Deutschlehrer hat schon angekündigt: Wenn im Herbst der Film ins Kino kommt, werden sie "Tschick" lesen.

Es ist kalt, und Fatih Akin stakst im Winterparka über's Set. Man kann ihm ansehen, wie er die teuren, kleinteiligen Szenen alle schon mal im Kopf ablaufen lässt. Er schreit, wenn etwas schiefgeht, aber auch, wenn etwas gut läuft. Cool ist er immer sofort wieder, aber im Weg stehen will man trotzdem nicht. Ansprechen ist noch immer verboten. Nur mit den zwei Jungs spricht er immer wieder die Dialoge durch, wie ihre Charaktere sich gerade fühlen, mit Kameramann Rainer Klausmann klärt er auf dem Monitor Komposition und Bildausschnitt.

Bevor es dunkel wurde, konnte man gut sehen, wie Deutschland hier bei Magdeburg aussieht, nämlich so wie auf den Gemälden von Wolfgang Herrndorf, mit endlosen Feldern, akkuraten Baumgrüppchen und Windrädern in der Ferne. Ein Bild des Autors, das lange schief über seinem Schreibtisch gehangen haben soll, zeigt eine Landstraßenallee im kalten Licht einer hoch stehenden Sonne und trägt den Titel "Macht einem manchmal Angst: Die Natur".

Wolfgang Herrndorf hat, bevor er "Tschick" geschrieben hat, seine Lieblingsjugendbücher noch einmal gelesen. "Die Schatzinsel", "Die Abenteuer Arthur Gordon Pyms", "Herr der Fliegen". Was dort das Meer ist, ist in "Tschick" die Autobahn. Die Autobahn als Ort der Abenteuer? Als offener Ozean oder als Freilichtmuseum, als Illusion eines Erlebnisses?

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Ein paar Monate später, nur ein paar Wochen sind es noch bis zum Kinostart am 15. September, sitzt Fatih Akin in Berlin in einem Hotelzimmer mit kahlen Wänden, Plattenspieler und barocken Möbeln. Er trägt wie immer nur Grau und Schwarz, aber jetzt darf man ihn ansprechen. Wolfgang Herrndorf war Maler, hat also mit Bildern gearbeitet - hat das den Film beeinflusst? Akin lehnt sich zurück, blickt aus dem Fenster auf den Sommerregen. "Ein Film darf nie nur der bebilderte Roman sein. Wir haben versucht, in der Bildkomposition und dem Umgang mit Licht den Gemälden von Herrndorf möglichst nahezukommen. Ich wundere mich immer noch, wie viele von den Szenen im Buch auch als Film funktionieren." Als Beispiel nennt er eine Szene, in der sich die Jungs am Landstraßenrand Bärte aus Klebeband basteln, um älter zu wirken. Da steckt der ganze Herrndorf drin.

Der Job war Akins erste Auftragsarbeit. "Das war der erste Film, den ich als Regisseur, nicht als Filmemacher gedreht habe. Ein Regisseur ist ja einer, der Rohre verlegt oder Dächer deckt. Ich habe den Film als Dachdecker gemacht." Dann die Autobahn: "Für mich war die Autobahn immer ein Abenteuer", meint Akin. "Man kommt voran. Ich mag die Autobahn als Klischee: Man kann Gas geben, frei sein und dabei Musik hören."

Der Film wird über die gesamte Länge von zwei Schauspielern getragen, die tatsächlich erst 14 Jahre alt sind. Akin fand die Arbeit mit Teenagern großartig: "Teenies sind keine Kinder mehr, aber auch keine Erwachsenen. Keine Raupen und keine Schmetterlinge. Die sind wie verpuppt. Das ist ein besonderer Moment im Leben. Voll mystisch. Teenies sind mystisch." Steht deshalb in Akins Auslegung das Erwachsenwerden im Vordergrund? "Ja, das hat mich am meisten interessiert. Den Felsen in sich selbst zu finden, davon handelt der Film."

© SZ vom 10.08.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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