Warum gerade ich, warum ich? Die Frage, die für Krebskranke nahezuliegen scheint, hat sich Wolfgang Herrndorf nicht gestellt. Ein knappes Jahr nachdem bei ihm ein bösartiger Hirntumor diagnostiziert wurde, schrieb er in seinem Blog "Arbeit und Struktur": "Warum ich? Warum denn nicht ich? Willkommen in der biochemischen Lotterie." So beherrscht, ohne Heldenpose, ohne Sentimentalität, schrieb er über die Krankheit, Klarheit wollend.
Die Klarheit und seine Souveränität wollte er sich von niemandem nehmen lassen. Wenige Tage später, am 15. Januar 2011, notierte Wolfgang Herrndorf einen bitteren Moment. Sein Jugendroman "Tschick", im Herbst zuvor erschienen, fand immer mehr begeisterte Leser: "Gerade werden die Filmrechte verhandelt. Und das ist vielleicht der Punkt, wo ich dann doch so eine Art von Ressentiment empfinde: 25 Jahre am Existenzminimum rumgekrebst und gehofft, einmal eine 2-Zimmer-Wohnung mit Ausblick zu haben. Jetzt könnte ich sechsstellige Summen verdienen, und es gibt nichts, was mir egaler wäre." Das war die Kurve dieses Lebens: Als der Erfolg sich endlich einstellte, diktierten Operationen, Bestrahlungen, Chemos, Überlebensstatistiken, Wahrscheinlichkeiten den Alltag. Die vielen Preise, die Herrndorf nun erhielt, mussten Freunde entgegennehmen.
Kritiker, die nicht lesen können
Bösartige Kritiker haben den Erfolg aus dem Schrecken angesichts des Tumors, aus dem Mitleid erklären wollen und damit bewiesen, dass sie nicht lesen können. "Tschick", der Jugendroman über zwei Ausreißer, mit denen kein Teenager, kein Erwachsener, kein Greis sich langweilt, wird vom vierzehnjährigen Maik Klingenberg erzählt. Er beginnt so: "Als Erstes ist da der Geruch von Blut und Kaffee. Die Kaffeemaschine steht drüben auf dem Tisch, und das Blut ist in meinen Schuhen. Um ehrlich zu sein, es ist nicht nur Blut."
In welchem Buch der deutschen Gegenwartsliteratur gibt es solch einen Ton? Frisch, anschaulich, ohne Schnörkel und Angestrengtheiten, jugendlich, aber doch nie die bemühte Imitation von Jargon. Guter Stil, heißt es einmal in "Arbeit und Struktur", verlange nicht viel: sich überlegen, was man sagen will, dann es einfach sagen. Erscheine es dann zu einfach, könne das zwei Gründe haben: Die Sprache sei entweder nicht aufgeladen genug vom Gedanken, oder der Gedanke interessiere einen selbst nicht. Dann lösche man ihn.
Wolfgang Herrndorf, Jahrgang 1965, wuchs in Hamburg auf, in einem kleinbürgerlichen Haushalt, wie er später sagte, fernab von "Kultur im normalen Feuilletonsinne". Den Deutschlehrer aber behielt er in guter Erinnerung. Er studierte Kunst in Nürnberg, zog nach Berlin, arbeitete als Illustrator, zeichnete für die Titanic und den Haffmanns Verlag.
Im Jahr 2002 erschien sein Debütroman "In Plüschgewittern", der manchen seltsam verspätet vorkam. Berlin und die Popliteratur waren gerade einmal nicht Mode. Zwei Jahre später gewann Herrndorf den Publikumspreis beim Wettlesen in Klagenfurt mit "Diesseits des Van-Allen-Gürtels". Unter diesem Titel veröffentlichte er 2007 sechs Erzählungen. Die letzte hieß "Zentrale Intelligenz Agentur" und berichtete von der Gründungsfeier der legendenumwobenen Institution der Berliner digitalen Boheme, irgendwo auf einem Schloss in Brandenburg, mit Freunden, ungeladenen Gästen und - "als Deko gedacht" - Autorinnen vom Leipziger Literaturinstitut. Der Autor Herrndorf war ein Spieler, er liebte es kalt und komisch.
Die Korrekturen am Jugendroman fielen in die ersten Monate nach der Krebsdiagnose. Wer das Buch über die zwei Ausreißer gelesen hat, die eine feindliche Welt erwarten und doch beinahe überall auf Freundlichkeit stoßen, wird den Erfolg verstehen und nichts Rätselhaftes daran finden. Er war ungewöhnlich, weil nicht von einer Marketingmaschine angetrieben, sondern befeuert von der Begeisterung der Leser. Inzwischen wurden von "Tschick" mehr als eine Million Exemplare verkauft. In Costa Rica soll das Buch angeblich Schulstoff sein. Es zeigt die Kraft der Literatur, den Blick auf die Welt zu verwandeln. Mit Eichendorffs Taugenichts und Mark Twains Huckleberry wurde der Roman verglichen. Gewiss nicht zu Unrecht, aber seine Kraft bezieht er aus Herrndorfs klarer, herrlicher Prosa.
Wolfgang Herrndorf: Tschick:Zauberisch und superporno
Maik, wohlstandsverwahrlost, und Tschick, hochbegabt, asozial, werden nicht zu Tatjanas 14. Geburtstag eingeladen. Sie drehen ein anderes Ding. Ein Buch wie ein Roadmovie - nur besser.
Wie ein Schlag, den man schwer zu parieren wusste, traf dann der Wüstenroman "Sand" Kritik und Leser, ein Buch schwärzester, also nebelfreier Romantik, für das Herrndorf im Jahr 2012 den Preis der Leipziger Buchmesse erhielt. Der kluge Kritiker Michael Maar hat den Plot und die Rätsel des Spionageromans, Nordafrika im Sommer 1972, entschlüsselt. Er hält "Sand" für "den größten, grausigsten, komischsten und klügsten Roman der letzten Dekade". Während in "Tschick" die Freundlichkeit obsiegt, nimmt in "Sand" alles die schlimmste Wendung. Der Erzähler ist hier ganz auf der Höhe seines Könnens: Virtuos spielt er mit Motiven und Zitaten, er schildert mit einer äußerst seltenen Anschaulichkeit. Der Leser glaubt zu sehen, wie das Licht fällt, und ist dann doch überrascht, überwältigt von Pointen, Sarkasmen, erzählerischen Finten.
Vier große Bücher
In der Nacht auf den 27. August ist Wolfgang Herrndorf im Alter von 48 Jahren gestorben. Die Freundin und Autorin Kathrin Passig teilte am Dienstag mit, Wolfgang Herrndorf sei nicht am Krebs gestorben, sondern habe sich das Leben genommen. Zurück bleiben vier große Bücher, die auf verschiedenen Wegen noch einmal die ganz großen Fragen stellen: nach der Einsamkeit, der Sehnsucht, dem Glück, dem Bösen im Menschen und in der Welt. Sie sprechen davon auf ganz gegenwärtige Weise, ohne metaphysische oder weltanschauliche Krücken zu bemühen.
Zurück bleibt Wolfgang Herrndorfs Blog "Arbeit und Struktur", in dem er alle an seinem Leben mit dem Tumor teilnehmen ließ, ohne auch nur einem zu dicht auf die Pelle zu rücken. In diesem Online-Tagebuch ist Herrndorf auch als scharf urteilender, genauer Literaturkritiker zu entdecken und als Mensch, der sich die Fäden nicht aus der Hand nehmen ließ. Hoffentlich erscheint "Arbeit und Struktur" bald als Buch.
Anmerkung der Redaktion: Wir haben uns entschieden, in der Regel nicht über Selbsttötungen zu berichten, außer sie erfahren durch die Umstände besondere Aufmerksamkeit. Die Berichterstattung über den Tod Wolfgang Herrndorfs gestalten wir deshalb bewusst zurückhaltend, wir verzichten weitgehend auf Details. Der Grund für unsere Zurückhaltung ist die hohe Nachahmerquote nach jeder Berichterstattung über Suizide.
Wenn Sie sich selbst betroffen fühlen, kontaktieren Sie bitte umgehend die Telefonseelsorge. Unter der kostenlosen Hotline 0800-1110111 oder 0800-1110222 erhalten Sie Hilfe von Beratern, die schon in vielen Fällen Auswege aus schwierigen Situationen aufzeigen konnten.