Kaum etwas verletzt das Gerechtigkeitsgefühl der Menschen mehr, als wenn ein Unschuldiger aus der Gemeinschaft ausgestoßen und Opfer einer Hexenjagd wird. Vor allem, wenn der unberechtigte Vorwurf auf sexuellen Missbrauch eines Kindes lautet: Kein Vorwurf wirkt vernichtender.
Für das Kino ist diese Konstellation die ultimative Heimsuchung und wurde von diesem immer wieder aufgegriffen - etwa von Vincent Garenq in "Guilty" (2011) und von Jacob Thuesen in "The Accused" (2005). Im Film "Die Jagd" hat sich auch Regisseur Thomas Vinterberg dem Thema genähert, und das ist insofern interessant, als dass sich der dänische Filmemacher schon einmal mit der Pädophilie beschäftigte - in seinem bahnbrechenden Film "Das Fest" von 1998, mit dem er über Nacht bekannt und dann eine ganze Zeit lang als Begründer des Dogma-Stils gefeiert wurde.
Ging es in "Das Fest" darum, der schmutzigen Wahrheit der Pädophilie bei einem heuchlerischen Familienfest entgegenzutreten, so taucht Kindesmissbrauch in "Die Jagd" nur in den Köpfen der Menschen auf. Sie basiert auf der unüberlegten Lüge eines Kindes. Die Pädophilie ist hier nur ein Phantom, doch damit erteilt uns Vinterberg in keiner Weise Absolution. Im Gegenteil, wie er seine Figuren hier auf menschliche Abgründe zutreibt, wird durch die tatsächliche Unschuld sogar bitterer.
Im Kern geht es in "Die Jagd" um die Unumkehrbarkeit, mit der sich Lügen, Gerüchte und Andeutungen in der öffentlichen Meinung zu einer scheinbaren Wahrheit verdichten, die einen irreparablen Schaden anrichtet. Gleichzeitig zeigt Vinterberg, wie schnell Freundschaften auseinanderbrechen können, auch wenn sie über Jahrzehnte geformt wurden. Und wie bereitwillig sich Männer einer Gruppe gegen einen der ihren verbünden, nur weil es der Gruppenzwang nahelegt.
Lucas (gespielt von Mads Mikkelsen) ist respektiertes Mitglied einer solchen Männer-Gruppe in einer dänischen Kleinstadt. Sie sitzen abends beim Bier zusammen, reißen derbe Witze und gehen gemeinsam auf die Jagd. Noch sind es die Rehe, denen die Hatz gilt, nichts deutet an diesem Punkt auf die wahre Bedeutung des Filmtitels hin.
Der Albtraum beginnt, als alles gut zu werden scheint
Lucas ist an der Seele etwas versehrt - er verlor seinen Job als Lehrer, eine hässliche Scheidung liegt hinter ihm, doch er ist dabei, sich aufzurappeln: In seiner neuen Stelle im örtlichen Kindergarten fühlt er sich wohl und auch die Liebe kehrt zurück - in Person der attraktiven Kollegin Nadja (Alexandra Rapaport). Sein jugendlicher Sohn Marcus (Lasse Fogelstrom), den die Mutter vor ihm abschirmte, steht offenbar kurz davor, zu ihm zurückzuziehen.
Im Leben von Lucas scheinen sich die Dinge zu richten, als durch eine harmlose Allerweltssituation eine albtraumhafte Kettenreaktion angestoßen wird: Klara (Annika Wedderkopp), die kleine Tochter von Lucas' bestem Freund Theo (Thomas Bo Larsen) entwickelt eine unschuldige kindliche Schwärmerei für ihn, was nicht verwundert. Denn Mikkelsen, der bislang oft harte Kerle mimte und sich als Gegenspieler von James Bond in "Casino Royal" profilierte, gibt diesem Lucas eine Wärme und ein Mitgefühl für die Kinder, die herzerweichend ist.
Als Klara Grenzen normaler Zuneigung zwischen Kindern und Erwachsenen überschreitet, versucht der Erzieher sanft auf Distanz zu gehen, was Klara als schmerzliche Zurückweisung empfindet. Halb aus Groll, halb aus kindlicher Unschuld heraus, erzählt die Kleine der Kindergarten-Chefin Grethe (Susse Wold), dass Lucas sich vor ihr entblößt habe, wobei ihr die Phantasie einen Streich spielt - in Wahrheit spricht sie von einem pornografischen Bild, das sie auf dem iPad ihres Bruders gesehen hat.
Alles ist plötzlich erlaubt
Grete nimmt Klaras Schilderung sehr ernst, will alles richtig machen und macht dabei vor lauter bemühter politischer Korrektheit alles falsch. Voreilig informiert sie Kollegen, Eltern und schließlich die Polizei, während sie Lucas aus falschem Pflichtgefühl heraus noch nicht einmal verrät, was ihm genau vorgeworfen wird, geschweige denn von wem. Und so nehmen die Dinge ihren infernalischen Lauf - praktisch über Nacht wird Lucas in der Stadt als vermeintlicher Kinderschänder zum vogelfreien Aussätzigen. "Die Jagd" auf ihn kennt kaum noch Regeln, ob körperliche Attacken oder psychische Grausamkeiten, das alles scheint plötzlich erlaubt zu sein.
Fast noch verstörender ist allerdings, dass nicht nur Lucas Opfer dieser Situation ist, sondern auch Klara, für die das Verhalten der Erwachsenen um sie herum immer verwirrender wird.
Eine kindliche Täterin, die selbst zum Opfer einer paranoiden Erwachsenenwelt wird - Thomas Vinterberg zeigt eine perfide Dialektik als Folge eines Gruppenwahns auf. Getragen wird sein Meisterwerk von großartigen darstellerischen Leistungen. Mads Mikkelsen wurde im vergangenen Jahr für seine Rolle des Lucas in Cannes zu Recht als bester Darsteller ausgezeichnet.