Literaturnobelpreisträgerin Tokarczuk:An alle, die noch nicht geboren sind

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Olga Tokarczuk spricht auf der Presskonferenz zu ihrem Literaturnobelpreis. (Foto: AP)

Olga Tokarczuk erklärt in ihrer poetischen Nobelpreisrede die Einheit der Welt. Und sie sagt, warum sie Fake News für eine Bedrohung der Literatur hält.

Von Marie Schmidt

Eine neue Dimension des Weltwissens bedarf einer anderen Dimension des Erzählens, sagte Olga Tokarczuk in ihrer Vorlesung in Stockholm, drei Tage bevor sie nachträglich den Nobelpreis 2018 erhält. Sie sprach Polnisch, untermalt vom Geräusch des Umblätterns, die Zuhörer im Saal lasen englische und schwedische Übersetzungen mit: "Ich träume von einer neuen Erzählweise - einer in der ,vierten Person', die natürlich nicht nur eine grammatikalische Konstruktion ist, sondern eine, die es schafft, die Perspektiven jedes ihrer Charaktere zu umfassen, aber auch über ihrer aller Horizont hinaus zu treten, eine, die mehr sieht und eine weitere Sicht hat, und die durch die Zeit gehen kann."

Diese Perspektive nannte Tokarczuk auch eine "Zärtliche Erzählerin", so der Titel ihres Vortrags. Sie umriss darin klar und nüchtern die Poetologie, aus der etwa "Die Jakobsbücher" entstanden ist, ihr großer Roman, in dem sie die Handlung in eine Vielzahl von Personen und Details auflöst - und daraus zugleich das Bild einer Epoche zusammenfügt. Tokarczuk stellte diese Schreibweise als Ergebnis einer Suche dar, nach einer Literatur, die die Schäden des Informationszeitalters überdauern kann. Dessen wirre Lage beschrieb sie genau: Wie die von Johann Comenius im 17. Jahrhundert formulierte Vorstellung vom "Pansophismus", dem allen zugänglichen Wissen, das jeden Einzelnen zum reflektierten Menschen machen würde, vom Internet eben nicht erfüllt wurde.

Gegen die "Information" stellt die Nobelpreisträgerin "Erfahrung" und "Bedeutung"

Und welche schwachen Erzählweisen die Masse der Informationen hervorgebracht hat: Anachronistische Narrative, zu denen die identitären und nationalistischen gehören, mit denen auch ihr Land Polen zu tun hat, erwähnte sie nur kurz. Die marktgängige Aufteilung der Literatur in Genres lehnte sie ab. Und sie erzählte, welch grundsätzliches Misstrauen gegen die Fiktion durch Fake News entsteht: "Ich werde oft skeptisch gefragt: ,Ist das wirklich wahr, was Sie geschrieben haben?' Und jedes Mal habe ich das Gefühl, diese Frage sagt das Ende der Literatur voraus."

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Mit der Dramaturgie der Fernsehserie beschäftigte sich Tokarczuk, ihren Charakterensembles und offenen Enden, "die dauernde Verschiebung der Belohnung, die eine Katharsis darstellt". Der Konjunktur der Ich-Erzählungen gestand sie zu, dass sie für eine Demokratisierung des literarischen Feldes stehe. Aber wenn das Lesen von Ich-Erzählungen auch bedeute, sich an die Stelle eines Anderen zu versetzen, fehle dabei, was Tokarczuk die Dimension der Parabel nannte: "Denn der Held der Parabel ist zugleich er selbst, eine Person, die unter bestimmten historischen und geografischen Bedingungen lebt, und er geht über diese konkreten Einzelheiten hinaus und wird eine Art Jedermann von überall."

Gegen den Begriff der Information stellte Tokarczuk "Erfahrung" und "Bedeutung" als Erkenntnisweisen der Literatur, die sich allerdings einen der heutigen Gestalt des Weltwissens entsprechenden Rahmen geben müssten. Eben den einer "vierten" Perspektive, die auch wahrnimmt, wie Figuren, Ichs und Wesenheiten über verschiedene Räume und Zeiten miteinander verbunden sind: "Alles zu sehen, bedeutet eine ganz andere Verantwortung für die Welt, weil es offensichtlich wird, dass die Geste ,hier' mit der Geste ,dort' verbunden ist, dass eine Entscheidung, die in einem Teil der Welt getroffen wird, Auswirkungen in einem anderen ihrer Teile haben wird, und dass die Unterscheidung zwischen ,mein' und ,dein' fragwürdig wird."

Zum leitenden Prinzip ihrer Poetologie machte Tokarczuk mit dieser Nobelpreisrede einen Affekt: "Zärtlichkeit ist die tief gefühlte Sorge um ein anderes Wesen und seinen Mangel an Immunität gegen Leid und die Auswirkungen der Zeit. Zärtlichkeit nimmt die Bindungen war, die uns verknüpfen, die Ähnlichkeiten und Gleichheit zwischen uns. Es ist eine Art zu sehen, die die Welt als lebendige zeigt, lebend, vernetzt, kooperierend und abhängig. Literatur baut auf Zärtlichkeit gegenüber jedem Wesen auf, das nicht wir selber sind."

Begonnen hatte Tokarczuk ihre Vorlesung mit einer zärtlichen Erzählerin: ihrer Mutter. Auf die Frage, warum sie auf einem alten Foto traurig aussehe, habe die geantwortet, "sie sei traurig gewesen, weil ich noch nicht geboren war und sie habe mich schon vermisst." Damit war das Ich der kindlichen Autorin in eine Perspektive der Ewigkeit gerückt. Am Ende sprach Tokarczuk über die, "die noch nicht geboren sind, sich aber eines Tages dem zuwenden, was wir geschrieben haben". Sie denke mit Schuld und Scham an sie, denn Klimakrise und politische Krisen entstünden ja auch aus Gründen, die man nur aus Selbstbezüglichkeit nicht sehe: "Deswegen glaube ich, dass ich Geschichten erzählen muss, als sei die Welt, in der wir leben, eine Einheit, die sich ständig vor unseren Augen bildet, und als seien wir nur ein kleiner und zugleich mächtiger Teil davon."

© SZ vom 09.12.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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