Was für ein Theaterabend! Man geht mit einem Völlegefühl heraus, als habe man zu viel serviert bekommen, zu viele Kalorien, zu viele Fette, zu viel des Guten. Auch mit einem Gefühl der Überlänge, drei Stunden sind schon mal schneller vergangen, dabei gab es sogar eine Pause, die kam, als man hätte denken können, das Stück sei jetzt womöglich zu Ende, wie es danach noch an zwei weiteren Stellen gut hätte zu Ende sein können, aber noch nicht zu Ende war. "Was produzierst du hier Überlänge?", fragt der Autor selber einmal in seinem Text. Eigentlich hätte es dann tatsächlich immer weitergehen können, endlos, weil es in dem Stück letztlich darum geht, "dass wir nichts aus der Geschichte lernen, dass sie kein Ende findet", dass wir "immer die gleichen Bilder" produzieren.
Und wenn es dann doch zu Ende ist und abgesackt und verdaut und einem vieles wieder aufstößt, dann möchte man dieses Stück in den Münchner Kammerspielen am liebsten gleich noch mal sehen, noch mal hören, allein schon wegen der Musik (Anton Berman), die wirklich fantastisch ist, und wegen der Puppen mit ihrem so eigenen Zauber, und wegen der sechs großartigen Schauspieler oder besser: Schauspielerpersönlichkeiten, denen man in Wirrnis- wie Exzesslagen gerne zusieht und die man einfach auch gerne ansieht. Und, ja, auch wegen der Sprache.
Es gibt liturgische Elemente und lateinische Sätze ebenso wie jugendsprachliche Anglizismen, "ach whatever"
Der Autor Thomas Köck hat nämlich wirklich eine, eine starke, poetische, bezirzende, hoch musikalisch zusammenkomponierte Sprache. "Eure Paläste sind leer (all we ever wanted)" ist denn auch ohne Punkt und Komma wie ein Langgedicht geschrieben, alles in einem reißenden Fluss, ohne Rollenzuschreibungen, ohne Szenenanweisungen, die Orts- und Szenenwechsel nur durch zwei Schrägstriche (//) markiert. Eine "Missa in cantu" nennt der österreichische Sprachkünstler sein Stück, eine Messe mit Gesang des Priesters. Es gibt darin liturgische Elemente und lateinische Sätze ebenso wie heutigen Jargon und jugendsprachliche Anglizismen, "ihr Arschlöcher", "ach whatever".
Es ist eine Reise sprachstromabwärts ins Herz der Finsternis des europäischen Kolonialismus als Ursprung eines weltumspannenden Kapitalismus, in Anlehnung an Dantes "Göttliche Komödie" unterteilt in die drei Stationen "Inferno", "Purgatorio" und "Paradiso". Wobei das Paradies keine Erlösung verspricht, weder aus den Wiederholungsschleifen und Aporieschlaufen der Menschheitsgeschichte noch aus denen des Stücks und der in jeder Hinsicht überbordenden Inszenierung.
Die stammt von Jan-Christoph Gockel und ist einerseits von einem bebilderungszwanghaften Einfallsreichtum, was auch seine Tücken hat, weil man in diesem Assoziationsdschungel manchmal vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sieht - und keine Dramaturgie mehr erkennt (Gockel stellt den Text um, wie es ihm gefällt). Andererseits ist sie streckenweise reines Hörspiel. Die Balance aus beidem stimmt nicht ganz. Dennoch ist diese Uraufführung ein Faszinosum. Sie hat etwas sehr Eigenes, künstlerisch Besonderes. In den besten Szenen erzählt sie von einer großen Leere und Verlorenheit, von einem tiefen existenziellen Schmerz. Und dann fasst sie einem jäh ans Herz.
Wenn es losgeht, sehen wir Zuschauer uns selbst gespiegelt: Da sitzen die Schauspieler auf einem schön geschwungenen Jugendstil-Theaterbalkon und schauen uns von oben herab an, erwartungsvoll, gelangweilt, zunehmend empört. Julia Kurzweg zitiert in ihrem Bühnenbild grandioserweise den Zuschauerraum der Kammerspiele, jedenfalls den Rang und zwei Logen, was einen tollen Effekt hat, zumal die Architektur hier nur noch eine Ruine ist - halb verfallen wie jener Palast, den bei Thomas Köck eine Erzählerstimme im lyrischen Singsang durchwandert.
Damit geht das Stück los. Von hier, den verlassenen Gemächern einer zerstörten Kultur, nimmt es seinen Ausgang und blickt zurück auf die Ursprünge und Auswüchse des globalen Kapitalismus mit seiner restlosen Ausbeutung des Planeten. In dem erzählenden Ich scheint der blinde Seher Teiresias auf, diese mythologische Figur, die nach einem Schlangenbiss eine Zeitlang auch mal eine Frau war und dann wieder in einen Mann zurückverwandelt wurde, eine prophetische Gestalt, die den Gang der Dinge weiß und doch nie als Handelnder eingreift - die Analogien zu uns Heutigen, über die Klimakrise und andere Fakten bestens Informierten liegen auf der Hand.
Allerschönstes Chaos, allerübelste Gewalt
Teiresias' Pauschalreise in den inneren Kreis der Hölle geht zurück in die Zeit um 1550, als die Seefahrer der spanischen Krone sich im heutigen Brasilien den Amazonas brutalstmöglich untertan machten, auf der Suche nach dem legendären Goldland Eldorado. Hier kommen die fabelhaften Wesen des Puppenbauers und Schauspielers Michael Pietsch ins Spiel, der mit dem Regisseur Gockel ein festes Gespann bildet. Dem fiesen Don Gairre, der nicht von ungefähr an Klaus Kinski in Werner Herzogs Film "Aguirre, der Zorn Gottes" erinnert, hat er die Habgier ins Gesicht geschnitzt. Und jene räudige Puppe, die den christlichen Missionarsfolterer Don Stepano darstellt, schaut aus wie ein versoffener Franz Josef Strauß (dessen einstigen Afrika-Geschäften Gockel/Pietsch eine eigene, sehr fulminante Inszenierung an den Kammerspielen gewidmet haben: "Wir Schwarzen müssen zusammenhalten"). Dazu eine ganze Hilfsarmee von kleinen Conquistatores, die wie (und als) soldatische Marionetten an einer Stange hängen. Dass und wie die schwarze Schauspielerin Nancy Mensah-Offei ihnen ihre Stimme gibt, geht einem nahe.
Viel bitterböse Komik erzeugt dieser (von den Schauspielern sprach- wie spieltechnisch übernommene) Puppeneinsatz. Herrlich allein schon, wie ihre Rüstungen und Brustpanzer klappern, wenn sich bekreuzigen. Statt mit einem Schiff fallen die Spanier anspielungsreich in einem alten VW Golf in Brasilien ein. Mit Live-Kameras wird eindrucksvoll aus dem Inneren des Wagens heraus gefilmt, wo Puppen und Menschen sich drängen und heftig gezofft und gequarzt wird. Der Castorf-Stil hat ja nicht nur Schule, sondern längst auch schon Abitur gemacht. Allerschönstes Chaos. Allerübelste Gewalt.
In einem weiteren Erzählstrang - das ist der schwächere Teil des Unterfangens - geht es um die gegenwärtige Opiatepidemie in den USA. Hunderttausende Amerikaner sind von opioidhaltigen Schmerzmitteln abhängig, was den Pharmakonzernen Milliardengewinne einbringt. Auch das eine Form von Profitgier. Und ein Versuch, der von Köck beschriebenen Leere zu entkommen, der großen Lieblosigkeit unserer Zeit. Viele sterben an dem Zeug. Wie die Eltern jenes stummen Puppenjungen, den der Regisseur Gockel in das Stück einbaut, eine traurig-poetische Figur mit großen, menschlich wirkenden Augen, der ausdruckslos auf das blickt, was der Mensch angerichtet und ihm als Erbe hinterlassen hat.
Die Sache mit den Opiaten führt außerdem zu einem süchtigen Promi (Bernardo Arias Porras), dessen Haus von einem Fernsehteam belagert wird. Und in ein Schlachthaus, wo überarbeitete, schlecht bezahlte, mit Suchtmitteln zugedröhnte Menschen vor Erschöpfung umkippen. Gockel inszeniert das als grelle Fast-Food-Farce und Skater-Ballett vor dem Logo von McDonald's: ein überdimensionales, gelb leuchtendes M als das goldene Kalb unserer Tage. Mal kurven die Schauspieler in Latexkostümen auf Rollschuhen, mal simulieren sie eine Art "Philosophisches Sextett" im Raucherfernsehen der Siebziger, und jeder ist mal Teiresias mit blutiger Augenbinde.
Es ist ein großer, trauriger Abgesang, getragen von der Sprach- wie von der Livemusik. Anton Berman am Keyboard und Maria Moling am Schlagzeug spielen von heavy bis melodramatisch ganz groß auf, unterstützt manchmal von Christian Löber an der E-Gitarre und der fulminanten Katharina Bach, die so ziemlich alles kann, auch Trompete. Am Ende wird die gesamte Szenerie mit einem weißen Laken überzogen. Der Palast verwaist. Alles tot. Es stehen da nur noch: hohläugige Gespenster. Wir haben sie selbst geschaffen.