Theater im Warschauer Ghetto:Eine Komödie, geschrieben im Warschauer Ghetto

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Hunderttausende Juden lebten auf engstem Raum im Warschauer Ghetto. (Foto: AP)

Das Jahrzehnte verschollene Stück "Die Liebe sucht ein Zimmer" ist wiederaufgetaucht. Es zeigt: Selbst inmitten größter Grausamkeit können Menschen lachen.

Von Antonie Rietzschel

Ada und Edmund sind frisch verheiratet und richten ihre neue Wohnung ein, als plötzlich Marian vor der Tür steht - gemeinsam mit seiner Frau Stefcia und einem Kaktus. Der Kaktus heißt Hugo. Auch sie wollen eigentlich in die Wohnung einziehen. Die Pärchen beschließen also, einfach zusammenzuwohnen. Klingt sinnvoll. Geht aber natürlich nicht lange gut: Edmund und Stefcia verlieben sich ineinander. Genauso Ada und Marian. Und am Ende kriegen sie sich alle. Ehrensache.

Der Plot zu "Die Liebe sucht ein Zimmer" klingt also nach einer klassischen Romantik-Komödie. Für ein paar Lacher gut, dann schnell wieder vergessen. Zumal das Stück sich nicht lange mit der Entwicklung seiner Charaktere aufhält. Oder wenigstens der Geschichte. Ohne Umschweife geht es aufs Happy End zu - als hätten Ada, Edmund, Marian und Stefcia keine Zeit zu verlieren.

Was ja stimmt. Wer den Tod ständig um sich hat, beeilt sich mit der Liebe wohl.

Das Stück spielt und entstand schließlich im Warschauer Ghetto, einem der Schreckensorte des Dritten Reiches. Im Herbst 1940 hatten die Nazis Hunderttausende polnische Juden in einen Wohnbezirk gesperrt. Sie kappten die Lebensmittelrationen und hungerten die Menschen aus. Auf dem Bürgersteig stapelte sich der Müll. Unzählige starben an Unterernährung und Seuchen. Die Leichen lagen auf der Straße.

Schriftsteller David Safier stieß durch Zufall auf das Stück

Und inmitten dieses grauenhaften Leids schrieb der jüdische Satiriker Jerzy Jurandot "Die Liebe sucht ein Zimmer". Eine Komödie. Ausgerechnet. Das Stück wurde vermutlich nur ein Mal im Ghetto aufgeführt. Dann geriet es in Vergessenheit.

Jetzt ist es wiederaufgetaucht. Der Schriftsteller David Safier stieß durch Zufall auf die Komödie. Der Bremer ist eigentlich für leichte und komische Literatur bekannt. In seinem Romandebüt "Mieses Karma" wird eine Fernsehmoderatorin als Ameise wiedergeboren, auch das Drehbuch zur erfolgreichen Fernsehserie "Berlin, Berlin" stammt von ihm.

In seinem jüngsten Roman beschäftigt sich Safier jedoch mit dem Nationalsozialismus. In "28 Tage lang" erzählt er die Geschichte eines jungen Mädchens, das sich dem Widerstand im Warschauer Ghetto anschließt. Während einer Pressetour im Ausland wurde Safier immer wieder gefragt, ob er sich nicht vorstellen könne, eine Komödie über den Holocaust zu schreiben. Als Deutscher sah er sich dazu außerstande.

Doch er erinnerte sich an einen Tagebucheintrag, den er während seiner Recherchen gelesen hatte - eine kurze Zusammenfassung von "Die Liebe sucht ein Zimmer". Er machte sich auf die Suche nach dem Stück und erwarb die Rechte. Die Komödie gibt es nun als E-Book. Demnächst erscheint eine Hörspielfassung. Safier findet zwar einige Szenen übertrieben albern - ihn fasziniert aber der Grundtenor: "Dieser Wille zum Leben, dieser Wunsch, Liebe zu finden - und das im Angesicht des Todes."

Das Theaterstück ist Teil einer Gegenwelt, die im Warschauer Ghetto existierte. Einer eigentlich unvorstellbaren Welt mit Platz für Freundschaften, Liebe. Und für Humor. Und sogar mit einer lebhafte Kulturszene mit Literaturzirkeln und Lesekreisen. In den Theatern konnten die Bewohner ihren Alltag vergessen - oder darüber lachen.

Als das Femina-Theater "Die Liebe sucht ein Zimmer" am 26. Januar 1942 zum ersten Mal aufführte, spielte die Rolle der Stefcia Jurandots Frau, Stefania Grodzieńska. Jurandot karikiert in der Komödie das Leben im Ghetto. Die Heiratswut der jüdischen Bewohner bildet den erzählerischen Rahmen. Genau wie Ada, Edmund, Marian und Stefcia konnten sich die wenigsten mit der Suche nach der großen Liebe aufhalten - und nahmen in der Not den Erstbesten.

Wie ein Musical

Auch die ständige Lebensmittelknappheit taucht auf. Jurandot verpackt sie in einen schmerzlich skurrilen Dialog über das Frühstück. Marian fragt seine Frau, ob es kein Brot zur Marmelade gibt. Woraufhin Stefcia erklärt, für Brot sei kein Geld da gewesen. Ihr Vorschlag: "Du kannst Marmelädchen mit Honiglein essen." Ihren Mann nennt Stefcia liebevoll "Dickerchen". Einfach um der schönen Vorstellung willen, er könnte wirklich dick sein. In solchen Momenten schwingt eine gewisse Traurigkeit mit. Doch sie verfliegt schnell wieder - auch wegen der Gesangseinlagen.

Denn "Die Liebe sucht ein Zimmer" ist in Teilen ein Musical. Zu Beginn des Stücks bedauern die Paare, dass sie keine Hochzeitsreise machen können, weil sie eingesperrt sind. Nicht mal die Straßenbahn dürften sie als Juden benutzen, heißt es. Im nächsten Moment singen sie dann darüber, dass sie zumindest mit der völlig überfüllten Pferdekutsche fahren können: "Jedes Herz hüpft hier vor Freude - ob von Kind, von Frau, von Mann! Hüah, hüah, brr, brr ...". Zeilen, die die Zuschauer womöglich später auf den Straßen des Ghettos sangen. Am Ende des Liedes sagt Marian: "Irgendwann können wir auch wieder was anderes sehen." "Und unsere Kinder später auch", fügt Ada hinzu. Eine Hoffnung, die sich nicht erfüllt.

Im Juli 1942, sechs Monate nach der Uraufführung von "Die Liebe sucht ein Zimmer", lösten die Nazis das Warschauer Ghetto auf und schickten die verbliebenen Bewohner in die Gaskammern. Jerzy Jurandot schaffte es, seine Familie in Sicherheit zu bringen. Sein eigener Fluchtversuch misslang. Jurandot fand sich auf dem Umschlagplatz wieder. Dank der Hilfe eines Bekannten gelang es ihm zu entkommen. Bis zum Ende des Krieges wohnte er unter falschem Namen in Warschau. Er schrieb weiter Texte und Gedichte, die er in einem Einwegglas versteckte und im Garten vergrub. Die realen Darsteller von Ada und Edmund haben den Holocaust nicht überlebt.

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