Wiener Library:Archiv des Grauens

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Peiniger und Gepeinigte: KZ-Wache mit Juden in einem Konzentrationslager. (Foto: Süddeutsche Zeitung Photo)

Die Londoner Wiener Library macht als erste europäische Bibliothek UN-Archivmaterial zum Zweiten Weltkrieg zugänglich. Daraus geht auch hervor, dass eine Anklage gegen Hitler geplant war.

Von Alexander Menden, London

Vergangenes Jahr bekam Ben Barkow eine Nachricht, auf die er lange gewartet hatte: Das britische Außenministerium teilte dem Direktor der Wiener Library in London mit, es stehe eine Festplatte für ihn bereit, er brauche sie sich nur abzuholen. Auf dem Datenträger waren digitale Scans des gesamten Archivs der United Nations War Crimes Commission (UNWCC) gespeichert, insgesamt 900 Gigabyte.

"Ich war sehr froh", sagt Barkow. "Es hatte mich mehrere Anläufe gekostet, bis das Foreign Office offiziell die Kopien von den Vereinten Nationen angefordert hatte." Jedes Land, das Mitglied der UN ist, hat eine Recht, solche Kopien zu bestellen, und anders wäre die Wiener Library wohl auch nicht an die Dokumente gekommen, die sie nun als erste europäische Bibliothek ihren Nutzern frei zugänglich macht.

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Ben Barkow beschäftigte sich 2012 zum ersten Mal genauer mit dem Archiv der United Nations War Crimes Commission. Damals bereitete der Leiter der weltweit ältesten Einrichtung für Holocaustforschung ein Symposium zum 70. Jahrestag der UN-Verurteilung des Genozids an den europäischen Juden 1942 vor.

Aus jener Erklärung war ein Jahr später die Initiative der 17 damaligen UN-Mitgliedsstaaten hervorgegangen, Beweismaterial gegen die Nazis und ihre Verbündeten für mögliche Anklagen wegen Kriegsverbrechen zu sammeln. Angelegt zwischen 1943 und 1948, enthält das Archiv unter anderem Listen mutmaßlicher Kriegsverbrecher, die gegen sie erhobenen Anklagen, Augenzeugenberichte und sonstiges Beweismaterial, Korrespondenzen und Prozessmitschriften.

Angesichts dieser Materialfülle fand Barkow es erstaunlich, wie vergleichsweise wenig Beachtung das UNWCC-Archiv in der Arbeit der meisten Forscher fand, die sich mit den Kriegsverbrechertribunalen nach dem Zweiten Weltkrieg befassten.

In der UN-Zentrale mussten Forscher viele Hindernisse überwinden

Einer der Gründe war seiner Meinung nach, dass die Dokumente in der New Yorker UN-Zentrale nicht besonders gut zugänglich waren. Theoretisch standen sie zur Recherche zur Verfügung. Aber als beispielsweise Barkows Kollege Dan Plesch von der University of London versuchte, dort für ein Buch zu recherchieren, musste er ungewöhnlich viele Hindernisse überwinden.

Plesch brauchte, um Zugang zu erhalten, nicht nur einen offiziellen Brief der britischen Regierung, es war ihm auch nicht gestattet, irgendetwas aus den Dokumenten zu kopieren, nicht einmal handschriftlich. "Eine Zeitlang löste er das Problem, indem er sich Passagen einprägte, hinausging, und sie einem Mitarbeiter diktierte", erzählt Barkow. "Aber das unterband das UN-Personal dann schließlich auch."

Warum dieser Widerwille? Da könne er nur spekulieren, sagt Barkow. "Zum einen hatte lange niemand Zugriff auf dieses Archiv verlangt, zum anderen hatten sich viele Ergebnisse der Arbeit der UNWCC während des kalten Krieges als etwas peinlich für die Westmächte erwiesen.

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Aus dem Archiv ging hervor, dass die westlichen Alliierten anfangs wesentlich weniger nachdrücklich auf den Völkermord reagiert hatten als manche Länder, die nun Teil des Ostblocks waren." Die UN habe sehr hohe moralische Maßstäbe angesetzt, die nach dem Krieg in manchen Fällen der Realpolitik etwas in die Quere gekommen seien.

Der am Londoner Birkbeck College lehrende Historiker Nikolaus Wachsmann glaubt eher, dass weniger der Inhalt des Archivs als die byzantinischen Regularien einer unüberschaubaren Institution wie der UN zu solchen Schwierigkeiten führte.

Grundsätzlich hält der Experte für die Geschichte der Konzentrationslager es für begrüßenswert, dass die Wiener Library das UNWCC-Archiv als Gesamtkorpus erstmals in Großbritannien zugänglich macht. "Dieses Material ist zwar nicht neu, bietet aber eine sehr gute Übersicht über die Kriegsverbrecherprozesse", so Wachsmann. "Die UNWCC hatte selbst keine Exekutivmacht. Sie sammelte und sichtete das Material, das ihnen von den Mitgliedstaaten geliefert wurde, in denen dann auch die Prozesse stattfanden." Die bundesdeutsche Regierung hatte allerdings lange keinen Zugang zu dem Archiv.

Sexuelle Gewalt wurde in der Holocaust-Forschung lange marginalisiert

Die Erfolge der UNWCC-Arbeit waren beachtlich. Rund 2000 der Anklagen, die schon vor Ende des Zweiten Weltkriegs vorbereitet worden waren, führten tatsächlich zu Prozessen wegen Kriegsverbrechen. So stufte die War Crimes Commission erstmals sexuelle Gewalt und Vergewaltigungen als Kriegsverbrechen ein.

Das Archiv sei auch deshalb bedeutsam, sagt Barkow, weil in der Holocaust-Forschung sexuelle Gewalt bisher eine untergeordnete Rolle gespielt habe. Es verzeichnet zudem die erste Anklage eines amtierenden Staatsoberhauptes als Kriegsverbrecher: Die tschechoslowakische Exil-Regierung wollte Adolf Hitler persönlich zur Rechenschaft ziehen.

Die Datenbank, die man jetzt in der Wiener Library einsehen kann - bisher gibt es nur vom Katalog eine Onlineversion -, ist nicht nur sehr umfänglich, sondern auch vielfältig. Es gibt beispielsweise den Bericht des britischen Soldaten Harry Ogden, der aus einem Kriegsgefangenenlager in Norwegen ausbrach, sich bis nach Polen durchschlug und dort den Partisanen anschloss.

Er wurde wieder gefangen genommen, und da keiner ihm glaubte, dass er ein britischer Armeeangehöriger war, kam er als polnischer Kombattant ins KZ Auschwitz. Er überlebte, und beschrieb unter Eid die Grausamkeiten, denen er ausgesetzt war. Neben solchen Einzelschicksalen finden sich infrastrukturelle Dokumente, etwa ein gut hundertseitiger Bericht der polnischen Exilregierung über den Bau des Vernichtungslagers Treblinka, das wegen der systematischen Vernichtung des Beweismaterials bis heute sehr schlecht dokumentiert ist.

Für britische und kontinentaleuropäische Forscher macht das neue Angebot der Wiener Library die Arbeit sehr viel leichter. Ben Barkow glaubt, dass nicht nur Historiker es nutzen werden: "Etlichen Familien wird es ermöglicht, die Lücken in ihrer eigenen Geschichte zu füllen. Viele Überlebende sprachen nie von den Ereignissen des Krieges."

© SZ vom 02.05.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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