Die Autorin eines feministischen Klassikers und verständnisvolle Kritikerin der Männlichkeit Susan Faludi bekommt eine E-Mail von ihrem Vater. Die beiden hatten seit 25 Jahren wenig Kontakt, während der Scheidung der Eltern in den Siebzigerjahren war es zu gewalttätigen Szenen gekommen. "Liebe Susan", schreibt der Vater, "ich habe interessante Neuigkeiten für dich. Ich bin zu dem Schluss gelangt, dass ich lange genug den aggressiven Macho gespielt habe, der ich innerlich nie war." Anbei Fotos des Vaters in Rock und Rüschenbluse. Sie zeigen ihn, nein: sie nach einer geschlechtsangleichenden Operation in Thailand. Die Unterschrift lautet: "Love, your parent Stefánie".
Kurze Zeit später reist Faludi nach Budapest. Ihr Vater stammt von dort und lebt wieder da, seit die Familie in den USA auseinandergebrochen ist. "Konnte eine neue Identität die vorangegangene nicht nur ablösen, sondern gleich vollständig auslöschen?", fragt sich Susan Faludi. Sie findet eine alte Dame vor, an der ihr zumindest eine entnervende Angewohnheit vertraut ist: Sie redet ohne Unterlass und wischt unerwünschte Einwände lapidar beiseite. Die Frage stellt sich noch einmal anders: Ändert der Wechsel des Geschlechts etwas an einem patriarchalen Charakter?
Faludis Buch "In the Darkroom" über die Lebensgeschichte ihres Vaters kam in den USA erst heraus, nachdem Stefánie Faludi im Jahr 2014 gestorben war. Jetzt erscheint es auch in deutscher Übersetzung unter dem leider verniedlichenden Titel "Die Perlenohrringe meines Vaters". Es ist nicht nur eine Biografie, sondern auch eine bewundernswürdige Studie über den zurzeit in psychologischen wie politischen Kontexten gefährlich schwärenden Begriff "Identität". Faludi beruft sich auf den Psychoanalytiker Erik H. Erikson, der in den Sechzigerjahren über das "subjektive Gefühl einer bekräftigenden Gleichheit und Kontinuität" schrieb. Vor allem aber nutzt sie ihre Familiengeschichte, um eine Reihe von Themen zur Sprache zu bringen, die man schwerlich abstrakt zusammen zu denken wagte: Transsexualität, die chauvinistische Politik im heutigen Ungarn und die Erinnerung an den Holocaust. Der Vater hatte als jüdischer Teenager die Vernichtung überlebt. Nur darüber wollte Stefánie Faludi nie sprechen.
Vielleicht kann man über so verschiedene Dimensionen von Identität nur entlang einer individuellen Lebenserfahrung erzählen. Bekannt geworden ist Susan Faludi aber vor allem als scharfe Analytikerin der historischen und ökonomischen Strukturen hinter kulturellen Phänomenen. Mit ihrem Buch "Backlash" befreite sie 1991 die Frauenbewegung von einer schweren Last, indem sie die damals schon populären Mythen entlarvte, die Gleichberechtigung sei bereits erreicht, lasse aber die Frauen unglücklich, einsam und ausgebrannt zurück. 1999 erschien "Stiffed", auf Deutsch "Männer - das betrogene Geschlecht", in dem sie das entwürdigende Zusammenwirken alter Männlichkeitsnormen mit Arbeitslosigkeit und Prekarität in der postindustriellen Gesellschaft beschrieb. Ein Thema, das mit Blick auf manche Wähler des heutigen US-Präsidenten wieder diskutiert wird.
Solche wiederkehrenden Themen hat Susan Faludi vor Jahrzehnten schon gültig durchdacht. Sie zu treffen heißt deshalb auch, ein Idol zu treffen. Das geschieht in Paris, in der Lobby eines Hotels am Jardin du Luxembourg, wo Faludi wohnt, während sie Interviews über die französische Übersetzung "Dans la chambre noire" gibt. Sie ist, was wirklich jeder ihrer Selbstbeschreibungen widerspricht, eine zarte Erscheinung, zurückhaltend und offen, ihre Stimme dafür tief und voll. "Ich bin eine Frau, der es gelungen ist, die meisten Rituale traditioneller Weiblichkeit zu umschiffen", schreibt sie in ihrem neuen Buch.
Als Erstes müssen wir aber über den bedrückenden, aggressiven Backlash in Trumps Amerika sprechen. Während wir in Paris Kaffee trinken, versucht Christine Blasey Ford gerade mit Missbrauchsvorwürfen gegen den Kandidaten für den Obersten Gerichtshof, Brett Kavanaugh, Gehör zu finden. Als sei es 1991, als Faludis erstes Buch erschien und Anita Hill gegen Clarence Thomas aufstand. Von Kavanaugh, der dann trotzdem berufen wird, ist bekannt, dass er Roe v. Wade, die Grundsatzentscheidung zum Schwangerschaftsabbruch, außer Kraft setzen will. "Die feministische Energie, alles neu zu denken, geht verloren, wenn man sich darum kümmern muss, Grundrechte zu behalten", sagt Susan Faludi. "Die zweite Welle der Frauenbewegung wurde von den Institutionen unterstützt. Jetzt haben sich die Gerichte mit feindlich gesinnten Richtern gefüllt. Der Kongress und die Mehrheit der Gouverneure sind republikanisch." Bei aller Freude über die Resonanz von Genderfragen in Kunst und Kultur, über die Erfolge der "Me Too"-Bewegung, dürfe man sich darüber nicht täuschen: "Ohne eine breite Basis bleiben Frauen mit nichts weiter zurück als ihrer Tugendhaftigkeit."