Star-Dramatiker über Camerons Blockade:"Ihr macht die Zukunft meiner Kinder kaputt"

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Was denkt Britannien über David Camerons Nein zur Änderung des EU-Vertrages? Der Intellektuelle und Dramatiker Simon Stephens über das Selbstverständnis seiner Nation und die Angst vor Europa.

Alexander Menden

Das Veto des britischen Premiers David Cameron gegen eine Änderung der EU-Verträge hat im Vereinigten Königreich eine hitzige öffentliche Debatte über Rolle und Verbleib der Briten in der EU ausgelöst. An ihr beteiligt sich der bekennende Europafreund Simon Stephens. Der Vierzigjährige ist in Deutschland einer der meistgespielten jüngeren britischen Dramatiker.

Der britische Premierminister David Cameron bei einer Pressekonferenz im Rahmen des EU-Gipfels am 9. Dezember. (Foto: dpa)

Seine Stücke "Motortown" und "Pornography" wurden in zahlreichen deutschen Theatern inszeniert; zuletzt siegte sein Drama "Wastwater" bei der Kritikerumfrage der Zeitschrift Theater heute in der Kategorie "Ausländisches Stück des Jahres". Derzeit probt der Autor im Londoner Norden mit der Regisseurin Katie Mitchell sein Stück "The Trial of Ubu". Beim Gespräch im Probenraum des Hampstead Theatre erweckt Simon Stephens den Eindruck, dass er nicht nur Alfred Jarrys infantilen Tyrannen Ubu, sondern auch David Cameron gerne einmal vor ein Bühnengericht stellen würde.

SZ: Mr. Stephens, spüren Sie unter Ihren Landsleuten eine Genugtuung darüber, dass sich das Vereinigte Königreich gerade von Europa entfernt?

Simon Stephens: Ich glaube, die Gesellschaft hier ist vor allem sehr polarisiert. Die Debatte wird mit großer Leidenschaft geführt, ich nehme mich da keineswegs aus. Es gibt europafreundliche Stimmen, die Cameron als neoliberalen Idioten hinstellen - Leute wie mich, die auf ihre Art aber genauso unausgegoren und irrational argumentieren wie der kleine Geschäftsmann, der auf Europa schimpft. Als Künstler interessiert mich dieser Dauerzustand existentieller Furcht natürlich sehr. Wir wissen einfach nicht, was als Nächstes passiert, wie schlimm es noch wird. Der Sprecher einer amerikanischen Bank hat kürzlich gesagt: Wenn der Euro untergeht, sollten wir uns alle einen ausreichenden Vorrat an Konserven und eine Handfeuerwaffe zulegen.

SZ: Sind solche Extremsituationen nicht hervorragende Voraussetzungen für große Kunst?

Stephens: Selbstverständlich, ich habe die Hypotheken auf mein Haus damit abbezahlt, dass ich Stücke über die Lebensangst anderer Menschen geschrieben habe. Zwar plane ich nicht jetzt schon, über die Euro-Krise zu schreiben. Aber ich muss darüber sprechen, weil ich befürchte, dass unser Premierminister unser Land gerade in eine ganz fürchterliche Position manövriert hat.

SZ: Europa scheint momentan eher wieder als homogene Masse jenseits des Kanals wahrgenommen zu werden, nicht als Verbund unterschiedlicher Länder.

Stephens: Homogenisierung ist in bestimmten Situationen praktisch, besonders in Zeiten der Angst - wie den dreißiger Jahren oder jetzt gerade. Dann klammern sich viele Briten an den Begriff des "Anderen". Man fürchtet die Zukunft, weiß nicht, wie es wirtschaftlich weitergeht. Da kommt ein fremder Sündenbock gelegen, und das ist im Moment eben Europa. Mir fällt dazu ein Zitat des Künstlers William Morris ein, der sagte: Man hat nicht das Gefühl, etwas sei richtig, weil es wahr ist, sondern man glaubt, es sei wahr, weil es sich richtig anfühlt.

SZ: Das ist doch eine allgemein menschliche Regung, oder?

Stephens: Selbstverständlich, ich könnte mich selbst der gleichen Art von Homogenisierung bezichtigen: Ich spreche immer von "der City" und "dem Finanzsektor". Dabei ist dieser Bereich wahrscheinlich genauso vielfältig wie Europa. Aber in meinem Kopf sind City-Banker alle ein Haufen schleimiger, habgieriger fuckholes, die sich am Versagen und an den Schwächen ihrer Mitmenschen bereichern. Ich habe eben eine intuitive Abneigung gegen alles, was von Mar-garet Thatcher gefördert wurde, und von David Cameron, ihrem lächelnden, dicklichen, schweinegesichtigen Ziehsohn.

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SZ: Die Banker sind ja auch in England lange Ziel jener Art von Abneigung gewesen, die jetzt die EU trifft.

Stephens: Seit Camerons Veto habe ich immer wieder über diese Parallele nachgedacht: Der öffentliche Diskurs über die EU in Großbritannien ist geprägt von dem Widerwillen, sich den Launen und Entscheidungen einer Institution zu beugen, über die wir nur begrenzte demokratische Kontrolle haben - warum sollten wir tun, was Europa uns sagt? Das scheint auch der Grund für die Popularität von Camerons Blockade zu sein. Aber dieselben Leute haben anscheinend keine Probleme mehr damit, sich den Launen und Entscheidungen einer deutlich weniger legitimierten Institution zu beugen, nämlich der sogenannten City. David Cameron behauptet, er wolle unser Bankenwesen schützen und damit unsere gesamte Wirtschaft. Dabei macht der Finanzsektor nur siebeneinhalb Prozent unseres Bruttosozialproduktes aus. Nur ein Drittel davon wird von der City erwirtschaftet, und wiederum nur ein Bruchteil davon ist die Art von Casino-Spekulanten und Hedgefonds, die von strengeren europäischen Auflagen betroffen wären.

SZ: Warum hat Cameron die City dann in der Rechtfertigung seines Vetos so hervorgehoben?

Stephens: Eine sehr gute Frage. Ich kann darauf keine wirklich informierte, sondern nur eine instinktive Antwort geben: Entweder handelt er aus dem europafeindlichen Impuls heraus, den ich schon beschrieben habe. Er selbst mag sich dieser Angst vor dem "Anderen" gar nicht bewusst sein, aber sie existiert. Oder er will seine Kumpels im Bankenwesen schützen, mit denen er in Eton war und die in denselben Clubs verkehren wie er. Beide Positionen sind aus meiner Sicht gleichermaßen verachtenswert - die eine ist jämmerlich, die andere moralisch verwerflich. Ich vermute, dass er sie miteinander verbindet: Er nutzt den fremdenfeindlichen Impuls im Land, um seine Kumpels zu beschützen.

SZ: Der Londoner Bürgermeister Boris Johnson sagt, Europa sei einfach wütend auf die Briten, weil sie mit der Annahme recht hatten, dass der Euro nicht funktionieren werde.

Stephens: Das ist unlauter und beschämend. Die Heuchelei von Leuten wie Cameron und Johnson ist, dass sie sich jetzt, heimlich oder öffentlich, die Hände reiben und sich über die Krise des Euro freuen. Dabei war es ja nicht der Euro, der die europäischen Volkswirtschaften hat kollabieren lassen, sondern die Art von Bankgeschäften, die diese Politiker selbst so eifrig beschützen. Wir haben alle Geld ausgegeben, das wir nicht hatten. Der Dramatiker in mir betrachtet das Ergebnis mit großer Faszination - diese Existenzangst, die sich in Fremdenfeindlichkeit äußert und zu Entscheidungen führt, die katastrophal sein könnten. Aber der Vater in mir sagt gleichzeitig: Ihr macht die Zukunft meiner Kinder kaputt!

SZ: Wie schätzt der Dramatiker in Ihnen denn die Haltung des britischen Theaters zu Europa ein?

Stephens: Viele britische Theatermacher, wenn auch bei weitem nicht alle, haben eine erstaunlich xenophobe Haltung gegenüber kontinentaleuropäischem Theater. Es ist genau das gleiche Misstrauen, das englische Fußballfans in den achtziger Jahren gegenüber europäischen Fußballern und alle Briten in den Siebzigern gegenüber europäischem Essen hatten. Einer der einflussreichsten Männer im britischen Theater hat über mich gesagt, mein Talent sei durch meine enge Beziehung zum deutschen Theater "ruiniert" worden. Aber man kann nicht in Amsterdam und München ins Theater gehen, Arbeiten von Theatermachern wie Romeo Castellucci sehen und einfach weitermachen wie bisher. Thomas Ostermeiers "Hamlet" in der Berliner Schaubühne hat mich komplett umgehauen. Niemand in Großbritannien versteht bei Shakespeare so gut wie Ostermeier diesen schmutzigen Moment der theatralen Vorführung. Das britische Theater ist museal, es schaut immer nur auf sich selbst.

SZ: Hat das vielleicht etwas mit der britischen Insellage zu tun?

Stephens: Tatsächlich finde ich Antworten auf gesellschaftliche Fragen immer häufiger eher in der Geographie als in soziologischen oder historischen Überlegungen. Vergangenes Jahr war ich in Essen, zur Premiere von "Ubu". Dann brach dieser isländische Vulkan aus, und ich konnte nicht zurückfliegen. Also nahm ich zum ersten Mal seit meiner Kindheit eine Fähre. Es war wirklich eine erstaunliche Erfahrung, mich in der Dunkelheit in Calais einzuschiffen und dann plötzlich diese weißen Felsen von Dover vor mir aufragen zu sehen. Da wurde mir erst richtig bewusst, wie sehr wir von unserer Identität als Inselnation geprägt sind. Inselbewohner glauben, dass alle ständig von außen auf sie blicken, was natürlich nicht stimmt. Sie glauben, sie seien in allem Möglichen weltweit die Besten, obwohl sie in Wirklichkeit eine zu vernachlässigende Größe sind. Und sie neigen dazu, sich in schwierigen Zeiten einzuigeln. Genau das geschieht gerade.

© SZ vom 14.12.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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