John le Carré: "Silverview":Die Legende bleibt gewahrt

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Der ehemalige Geheimdienstmitarbeiter John le Carré war ein internationaler Bestsellerautor. Er starb am 12. Dezember 2020. (Foto: Christian Charisius/dpa)

Sein Leben lang erzählte John le Carré von Geheimagenten und Spionen. In Wahrheit aber geht es ihm immer um die Liebe. Auch in seinem letzten Roman "Silverview".

Von Fritz Göttler

Die alten Kommunikationsweisen funktionieren erstaunlich gut in diesem Buch. Wenn's sicher und diskret sein soll, greift man am besten zum Brief, und der wird auch nicht der Post anvertraut, sondern persönlich überbracht, durch einen individuellen, vertrauenswürdigen Boten. Vertrauen ist alles, in der täglichen Arbeit der Geheimagenten und Spione, von denen John le Carré sein Leben lang erzählte, auch in seinem neuen Roman "Silverview", der gerade auf Deutsch erschienen ist. Es ist der sechsundzwanzigste, er wurde posthum veröffentlicht, der Autor ist im vorigen Dezember gestorben, im Alter von 89 Jahren.

Den ersten Brief in diesem Buch übermittelt, in strömendem Regen, eine Tochter im Auftrag ihrer Mutter. Sie sucht dafür ein sicheres Haus in London auf, wo Stewart Proctor sie empfängt, Chef der Inlandssicherheit des britischen Geheimdienstes. Proctor the doctor, oberster Hexenjäger. In dem Brief geht es um ein mögliches Loch in diesem System. Proctor ist ausgesprochen höflich, sagt aber kein einziges Wort, das unnötig wäre. Er fordert die Tochter auf, unbedingt die Vorschule für ihren kleinen Sohn zu besichtigen, den sie dabei hat. Eben dies hatte sie als Grund für die Fahrt nach London angegeben, und der Anschein des Normalen - die Legende, so heißt das im Geheimdienstjargon - sollte unbedingt gewahrt bleiben.

Es macht den diskreten Realismus und den Charme der Romane von John le Carré aus, dass er sein Business, die Arbeit der Agenten und Spione, als im Grunde sehr provinziell beschreibt. Die Leute sind gutbürgerlich und liberal, das Wort Establishment ist ihnen suspekt, sie sind gründlich und unaufgeregt, manchmal ein wenig kleinkrämerisch, und nehmen ihren Job sehr ernst, zu ernst manchmal. Proctors Nr. 2 im Außendienst in Buenos Aires war seine Ehefrau Ellen. "Wie alle Familien dieser Art, wussten auch alle Proctors von Geburt an, dass das spirituell Allerheiligste der herrschenden Klasse von Großbritannien in ihren Geheimdiensten verborgen lag. Diese Erkenntnis, über die man nie offen sprach, ging mit einem hohen Maß an Solidarität einher."

Zu viele Stunden Fitnessstudio, zu viele One-Night-Stands

Es gibt eine aberwitzige Heimeligkeit in diesem Business, das ultrasichere grüne Diensttelefon der Proctors steht in der alten Spülküche hinter dem Haus auf einem roten Sockel, und Ellen hat einen Teewärmer drüber gestülpt. Man unterhält sich in ironischer Doppeldeutigkeit, und natürlich weiß Stewart, dass es sich beim archäologischen Trip seiner Frau in die Türkei eigentlich um einen Seitensprung handelt.

"Silverview" spielt in einem Küstenstädtchen von East Anglia. Dort hat ein gewisser Julian Lawndsley eben eine Buchhandlung übernommen. Er ist dreiunddreißig und hat die Nase voll von der großen Stadt London, wo er als Star im Bankgeschäft - ein "City-Mogul", der "teuflische trader" - einen Haufen Geld gemacht hat. Nun ist er genervt von zu vielen Stunden im Fitnessstudio und zu vielen One-Night-Stands. Was die Literatur angeht, hat er erhebliche Lücken, und das merkt auch der weißwuschelige Gentleman mit Regenschirm und Homburg sofort, der ihn am ersten Abend, kurz vor Ladenschluss, besucht. Er stellt sich als Edward Avon vor, hat offenbar Julians Vater gekannt, einen Vikar, der dem Glauben abschwor, und fordert Julian auf: "Trauern Sie um Sebald". W. G. Sebald ist gemeint, der deutsche Autor von "Die Ringe des Saturn", die Avon fürs Sortiment empfiehlt, ein "literarischer Taschenspielertrick", der von einer Pilgerreise erzählt, die im Marschland von East Anglia beginnt.

Dann schlägt er Julian ein ambitioniertes Projekt vor, eine Bibliothek im Keller seiner Buchhandlung, die das europäische Geistesleben versammelt, eine Literarische Republik, für die er gern Bücher auswählen, bestellen, einordnen würde. Ich bin eine "britische Promenadenmischung, im Ruhestand", erklärt er Julian, "einer von des Lebens Gelegenheitsarbeitern". Dass er mal im Geheimdienst war, erwähnt er nicht, und bald gerät der naive Julian unter dessen Observation.

John le Carré war ein Brexit-Gegner. Seine Figuren aber haben extreme politische Einfälle

Edward lebt in einem alten Herrenhaus, das seiner Frau Deborah gehört, eine Topanalystin des Geheimdienstes, und das er umtaufte in Silverview, nach der Villa Silberblick, in der Nietzsche seine letzten Lebensjahre verbrachte - Nietzsche, Hitlers Lieblingsphilosoph, der historisch zu schlecht weggekommen sei. So suspekt wie die geplante Literarische Republik war dem Geheimdienst schon der Handel mit Stücken einer Kollektion von chinesischem Porzellan, an dem Edward auch beteiligt war, Ming blauweiß.

Als Agent war Edward, der auch unter dem Namen Teddy oder Florian auftritt oder mit Faustus unterzeichnet, ungemein effektiv. Der Vater war Pole, er lehrte vor seinem Umschwenken als Geschichtsprofessor in Danzig, hat sich dann quasi selber angeworben, ein Agent nicht des Geldes oder des Spaßes wegen, sondern aus Überzeugung. Im Bosnienkrieg geriet er dann in ein verstörendes Geschehen um ein kleines muslimisches Dorf und eine jordanische Arztfamilie dort und eine Frau. "Wir haben ihn ausgeweidet", heißt es im Nachhinein über Edwards Aktivitäten. Seine Frau Deborah hat nun Krebs und nicht mehr lang zu leben, und sie hat Edward im Verdacht, zu seinen jugendlichen linken Idealen zurückgekehrt zu sein und in ihrem Geheimdienstmaterial herumgeschnüffelt zu haben. Was einen tollen Agenten auszeichnet, das persönliche Engagement, kann ihn plötzlich zum Verräter machen.

Der britische Geheimdienst ist ein altes Business, nicht nur weil John le Carré seit Jahrzehnten darüber schreibt - sein erster Roman, "Schatten von gestern" erschien 1961 -, sondern weil die Leute in "Silverview" nicht daran denken, auf ihre tradierten Hilfsmittel und bewährte Methoden zu verzichten - so angenehm old-fashioned ist das Milieu auch in den Romanen der nächsten oder übernächsten Generation, wie denen von Mick Herron um Jackson Lamb und seine ausgemusterte Truppe aus dem Slough House. Aggressive Methoden wie Spionage-Software und Hacking kommen nicht vor, und auch in die Bauten der Militärbasen des Kalten Kriegs findet man Zutritt, hundert Meter unter der Erde. Hier denkt man das Undenkbare.

John le Carré: Silverview. Roman. Aus dem Englischen von Peter Torberg. Ullstein, Berlin 2021. 252 Seiten, 24 Euro. (Foto: N/A)

Das Undenkbare denken, das ist aktueller denn je, seitdem Boris Johnson mit seinen Brexitvisionen alte britische imperiale Großmachtträume reaktivierte - John le Carré ist ein vehementer Brexit-Gegner gewesen. Deborah hatte, im Vorfeld des zweiten Irakkriegs, in ihrem Thinktank extreme Vorschläge: "Basierte auf bester Spionagearbeit, aber angetrieben von einer politischen Idee, hätte man den Eindruck haben können, nicht von einem zuverlässigen Sinn für die Realität. Simultanes Bombardement islamischer Hauptstädte, Überlassung des Gazastreifens und des Südlibanons an Israel, gezielte Attentatsprogramme auf Staatsoberhäupter, riesige Geheimarmeen aus internationalen Söldnern, die in der Region Chaos verbreiten, im Namen von Personen, die wir nicht mochten." Schon lange war Deborah nicht mehr die Frau in Edwards Leben gewesen.

Zum Tod von John le Carré
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Als junger Mann arbeitete er für den britischen Geheimdienst und lernte daraus viel für seine Karriere als Bestsellerautor: John le Carré, der Grautöne leuchten lassen konnte.

Von Sonja Zekri

John le Carrés Romane bezaubern, weil sie alle Liebesgeschichten sind, in der Tradition der großen Romane des 19. Jahrhunderts, der französischen mehr noch als der englischen. Den entscheidenden Brief dieses Buchs wird Julian in London übermitteln, im Auftrag Edwards. Er wird sie im Everyman Kino treffen und ihr Briefpapier kaufen und ein Klebeband, um ihre Antwort zu verschließen, all das Drumherum, das so wichtig ist für die Fragmente der Sprache der Liebe. Julian wird und will nicht wissen, was in den Briefen steht. Er berichtet Edward nach der Rückkehr: "Sie hat ihren Frieden gefunden. So ihre Worte. Und sie ist schön. Das hat sie natürlich nicht gesagt. Aber das sage ich." Ist eine schönere Liebesszene denkbar? Natürlich bleibt die Exkursion dem Geheimdienst nicht verborgen, und das ganze Drumherum. Das aber ist so wichtig für den Diskurs der Liebe, damit vieles dann ungesagt bleiben kann.

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