Fünf Favoriten der Woche:Sterben the Heming-way

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Lily (l.) steht auf Aliens, Ola auf Frauen - für die Schüler in "Sex Education" ist beides okay. (Foto: Sam Taylor/dpa)

Deepfakes sind jetzt marktreif, (sexuelle) Aufklärung ist immer noch ein Reizthema. Und kaum einer lebt so sophisticated ab wie Sepp Bierbichler.

Von Moritz Baumstieger, Harald Eggebrecht, Fritz Göttler, Andrian Kreye und Helmut Mauró

Aufklärungsarbeit

Wie viel hier hätte schiefgehen können! Die Netflix-Serie "Sex Education" verhandelt sexuelle Identitäten, Diversitäts- und Genderfragen. Und während in der Realität Erwachsene solche Debatten teils als Kulturkampf führen, zeigen die Schüler der Moordale High, dass ein viel lässigerer Umgang mit dem möglich ist, was in Herzen und Hosen los sein kann. Die aufgeklärte Haltung ist vor allem Otis zu verdanken, dem Sohn einer Sexualtherapeutin - und muss in der dritten Staffel gegen eine neue Schuldirektorin verteidigt werden. Das alles ist lustig und wenig subtil inszeniert, bleibt aber jugendfrei. Und so leistet die Serie auch dort Aufklärung, wo derlei Debatten nicht mal verkrampft, sondern gar nicht geführt werden: in Saudi-Arabien oder in Pakistan etwa, wie sich Netflix-Gründer Reed Hastings freute. Moritz Baumstieger

(Foto: N/A)

Elfenreigen

Gerade aufsteigende Musiktalente hat Corona empfindlich getroffen. Termine brachen en masse zusammen, Auftreten vor echtem Publikum war ja nicht mehr möglich. So erging es auch der glänzenden Cellistin Raphaela Gromes. Doch aus der Ausbremsung hat sie eine Tugend gemacht und einen vergnüglichen, hochvirtuosen Elfen- und Trollreigen eleganter romantischer Stücke zusammengestellt und als CD (Sony) herausgebracht. Darunter Cello-Klassiker wie David Poppers "Elfentanz". Oder reizvolle Arrangements, die ihr Klavierpartner Julian Riem besorgt hat, etwa Debussys "Versunkene Kathedrale" für Saxophon-Quartett, Cello und Klavier oder Mendelssohns Scherzo aus der "Sommernachtstraum"-Musik. Außerdem - das darf nicht fehlen - Hits aus den Filmmusiken zu "Herr der Ringe" von Howard Shore und "Star Wars" von John Williams. Harald Eggebrecht

Quicklebendig: Sepp Bierbichler im Film "Töchter" von Nana Neul. (Foto: Warner)

Sterben the Heming-way

"Töchter" heißt der Film, aber es geht zum großen Teil um die Väter. Einer davon ist tot, angeblich, ein anderer noch nicht. Alexandra Maria Lara und Birgit Minichmayr sind die zwei Töchter, Martha und Betty, Josef Bierbichler spielt den Vater Kurt. Er trickst seine Tochter Martha aus. Er braucht ihr Geld und ihren Wagen, sie soll ihn nämlich in die Schweiz bringen, in eine Klinik, zum Sterben. Er hat Lungenkrebs. Martha ist nach einem Unfall aber nicht mehr fähig, sich am Steuer dem Verkehr auszusetzen, also muss ihre beste Freundin Betty den Urlaub abbrechen und mit auf die Tour. Transit-Deutschland kann sehr ungemütlich und hässlich sein beim Durchqueren, und eigentlich will der Vater auch vorher noch mal an den Lago Maggiore, also gibt es einen Umweg nach Stresa. Dort erwartet ihn seine alte Geliebte, dort trennen sich die Wege von Vater und Töchtern. Kurt bleibt, die Mädchen fahren weiter durch Italien. Ein anderer Vater wird gesucht, Betty will zum Grab ihres Stiefvaters.

"Töchter" war ein überaus erfolgreicher Roman, die Verfasserin Lucy Fricke hat auch das Drehbuch für den Film geschrieben, gemeinsam mit Regisseurin Nana Neul. Martha und Betty haben auf der Weiterfahrt endlich ein bisschen Spaß, Verklemmung löst sich, Solidarität wird erprobt - nein, sie sind natürlich nicht Thelma & Louise, aber sie trauen sich endlich, das Unerwartete, Unerhörte zu tun. Also bocken sie fröhlich ihren Wagen auf einer Mauer in einem engen Gässchen auf.

Bierbichler ist in einem Film, der sich auf deutscher Seite zwischen Dortmund und Berlin verortet, ein Fremdkörper. Er ist eben doch sehr im Süden verhaftet. Ein müdes, unrasiertes Gesicht. Tiefe Ringe unter den Augen. Aber seine rauchige Stimme tönt noch immer in der gleichen bedrohlichen Sanftheit. Widerspruch eher ausgeschlossen. Man spürt in ihm immer noch den draufgängerischen, von sich überzeugten, zum Wildern entschlossenen jungen Burschen, der er in den Filmen von Herbert Achternbusch war. Ein Kindskopf, ein Kind, das nicht erwachsen werden will. Die Abenteuer der Töchter sind oft sympathisch unbeholfen, souverän dagegen die von Bierbichler. Er demonstriert die sophistication des alten, weißen, inkontinenten Mannes. Durchaus korrekt, in diesem Zusammenhang Hemingway ins Gespräch zu bringen. Der war auch gerne in Stresa. Fritz Göttler

Deepfakes für alle

Deepfakes sind Videos oder Tonaufnahmen, die mithilfe von künstlicher Intelligenz etwa Menschen Worte in den Mund legen, die sie nie gesprochen haben - oder grauenhaft alberne Songs wie "Barbie Girl", "Baby Shark" oder Rick Astleys Meme-Evergreen "Never Gonna Give You Up". Die Wombo-App ist derzeit ein Partyspaß, der Deepfakes zum buchstäblichen Kinderspiel macht. Man nimmt ein Selfie auf, klickt auf einen Song (es gibt auch aktuelle Hits von Drake oder Lizzo oder Oldies von Frankie Vallie oder Green Day) und schon animiert die künstliche Intelligenz das Porträt zum singenden, wippenden Minimusikvideo. Man kann natürlich auch Fotos von Freunden, Haustieren oder Promis in die App laden. Als Partyspaß erntet man dafür verblüffte Lacher. Wombo ist dabei allerdings nicht die einzige Deepfake-App für alle. Da gibt es noch Avatarify oder Reface. Noch erkennt man die Fälschungen auf den ersten Blick. Auf der anderen Seite ist aber klar: Deepfakes sind jetzt marktreif. Andrian Kreye

(Foto: N/A)

Aufnahmekunst

Mitunter klingt das, was er über Musik sagt, und wie er es sagt, ebenso spannend, geradlinig und doch hintersinnig wie seine Musikaufnahmen, von denen bisher die ursprünglichen Tonbandaufnahmen und Radiomitschnitte bei der Deutschen Grammophon und im Eigenverlag der Berliner Philharmoniker auf CD erschienen sind. Nun folgt Warner Classics mit einer eigenen CD-Edition. Wilhelm Furtwängler ist fraglos einer der größten Dirigenten aller Zeiten. Sein Musikverständnis fasziniert bis heute. Jede Frage habe für ihn immer zwei Ebenen, hat er einmal gesagt, eine grundsätzliche und eine praktische. Und diese Dialektik des Pragmatismus scheint eine recht stabile Grundlage zu sein für das, was im klanglichen Ergebnis dann doch immer darüber hinausgeht. Ob es um die Funktion einer Generalpause geht oder um die Absolutheit der Tonalität bei Bruckner - man kann, anders als bei vielen Formulierungskünstlern, sogleich nachhören, ob er auch meint, was er sagt.

Um dies zu befördern, hat Warner Classics nun "The Complete Wilhelm Furtwängler on Record" herausgebracht. Ein Wahnsinns-Unternehmen, das Studioaufnahmen und auch Livemitschnitte auf 55 CDs bannt. Von Carl Maria von Webers Freischütz-Ouvertüre aus dem Jahr 1926 bis Richard Wagners "Walküre" und Siegfrieds Trauermarsch aus der "Götterdämmerung" in Furtwänglers Todesjahr 1954 reicht das Spektrum. Natürlich dominiert das deutsche Repertoire von Joseph Haydn bis Richard Strauss, aber auch César Franck, Peter Tschaikowsky und Béla Bartók sind vertreten.

Vor der Größe der musikalischen Leistung übersieht man manchmal die Entwicklung der Aufnahme- und Wiedergabetechnik, die vor allem in Deutschland mit der Erfindung des Magnettonbandes große Fortschritte erzielte von den problematischen Anfängen, ersten Mikrofonaufnahmen, die zum Teil noch bis 1949 direkt auf Wachsmatrizen von maximal fünf Minuten Länge geschnitten wurden, obwohl es bereits Aufnahmen auf Tonband gab, bis zum standardmäßigen Einsatz desselben, was die Arbeit erleichterte, sicherer machte und die Qualität deutlich verbesserte. Für diese Edition wurden die jeweils originalstmöglichen Quellen verwendet, die Aufnahmebänder, Wachsplatten, Metallmatrizen und notfalls die besten aufzufindenden Pressungen. Für die CD-Edition wurden Fehler behoben, fehlende Takte ergänzt, Tonhöhen bei den Seitenübergängen der 78-Platten angeglichen und vieles mehr. Aber das alles ist eine Geschichte für sich, und man kann nur staunen, wie makellos die alten Aufnahmen teilweise klingen. Da hat sich in der Kunst des Remastering in den vergangenen 30 Jahren doch viel bewegt. Helmut Mauró

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