Berlinale-Entdeckung "Samsara":Endstation Ziege

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Dieses hübsche Tier aus Sansibar spielt auf der Berlinale eine wichtige Rolle - in Lois Patiños "Samsara". (Foto: Berlinale)

Vielleicht der radikalste Film der Berlinale: Der Spanier Lois Patiño schickt seine Zuschauer in "Samsara" auf Seelenwanderung - zum Teil sogar mit geschlossenen Augen.

Von Philipp Stadelmaier

Es gibt viele Gründe, im Kino die Augen zu schließen. Manchmal sind die Bilder auf der Leinwand zu brutal. Manchmal sind sie zum Fremdschämen. Und manchmal überkommt einen die große Müdigkeit, vor allem während eines Festivals wie der Berlinale, bei all den Filmen, die an einem vorbeiziehen.

In "Samsara", der dieses Jahr in der Berlinale-Nebenreihe Encounters läuft, gehört das Augenschließen hingegen zum Teil des Konzepts, was dem Filmerlebnis eine psychedelische Dimension verleiht, es unvergesslich macht. Die zwischen Dokumentation und Fiktion changierende Arbeit des vierzig Jahre alten Spaniers Lois Patiño erlaubt eine echte Begegnung mit einer aufregenden filmischen Formsprache sowie den gefilmten Landschaften und Wesen. Zunächst sind wir in Laos, wo Patiño buddhistische Mönche begleitet, beim Essen, Schlafen oder auf Bootsausflügen zu Wasserfällen in den Dschungel. Der Film bewegt sich frei umher, folgt auch einem jungen Mann, der eine ältere Frau pflegt, die im Sterben liegt.

Wir begegnen verschiedenen Bildtexturen und Farben, die nie zu naturalistisch, aber auch nie zu artifiziell wirken. Da ist das Blau des Wassers, das Grün des Urwalds und das über das Bild versprengte Orange der Mönchskutten und der Pflanzen. Immer wieder scheinen die auf traditionellen Filmmaterial gemachten Aufnahmen Temperatur und Aggregatzustand zu ändern. Manchmal glüht das Bild regelrecht auf, in Gelb und Rot, als würde es von einem plötzlichen Fieber befallen, während sich die Figuren der Mönche mit Lichtreflexionen auf dem Strom des Flusses vermischen. Menschliche Körper, immaterielles Licht und Vegetation, alles erscheint wie hinter einem feinen Schleier, entrückt und verflossen. Was diese meditativen Bilder daran hindert, zu exotischen Klischees zu werden.

Die Netzhäute des Publikums werden mit Licht- und Farbimpulsen massiert

Der zweite Teil des Films spielt in Sansibar, vor der Küste Ostafrikas. Ein gewaltiger geografischer Sprung quer über den Indischen Ozean. Aber das Entscheidende ist, wie Potiño diesen Übergang vollzieht. Der beginnt mit dem Tod der alten Frau, deren Seele auf Wanderschaft geschickt wird. Nun beginnt der eigentliche Trip, erhält die Metamorphose der Bilder noch einmal eine radikalere Qualität. Eine Texttafel bittet das Publikum, die Augen zu schließen. So man doch noch hinschaut, wird die Leinwand nun für lange Minuten schwarz, während nur noch der Ton zu hören ist. Später nimmt das Bild unterschiedliche Farben an und sendet plötzliche Lichtblitze aus - daher auch eine dem Film vorangestellte Epilepsiewarnung.

In diesen Minuten wird die Leinwand zu einem auf uns gerichteten Projektor, dessen Strahlen durch unsere geschlossenen Augen dringen und die Netzhäute mit Licht- und Farbimpulsen massieren. Womit die Innenseiten unserer Lider zu neuen Leinwänden werden, auf denen zwischen Tod und Leben, Blindheit und Sehen ein Zwischenreich entsteht, wie es nur in einem Kinosaal erlebt werden kann. Potiño versetzt uns in eine Art Schlummerzustand, und vertreibt dabei doch jede Müdigkeit.

Diese Erfahrung kann Angst machen. Wir "sehen" nichts mehr und spüren doch, dass ein Wegschauen nicht möglich ist, der Film trotz unserer Abkehr von der Leinwand immer noch da ist. Seine Bilder leben nach ihrem Ableben weiter, wie die Seele der alten Frau. Bis wir die Augen wieder aufschlagen, einen weißen Sandstrand vor uns haben und voller Verblüffung ins Gesicht einer Ziege starren, in der sich die Gestorbene reinkarniert hat - und, wer weiß, vielleicht auch ein Teil von uns.

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