Stefanie Schüler-Springorum ist Leiterin des renommierten Zentrums für Antisemitismusforschung an der TU Berlin. Als Holocaust-Forscherin weiß sie, wie kompliziert Polens Rolle während der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg war. Jaroslaw Kaczynskis neues Gesetz, so befürchtet Schüler-Springorum, ist nur ein weiterer Schritt in Richtung einer nationalistischen polnischen Geschichtsschreibung. Ein Gespräch über die Instrumentalisierung der Erinnerung und den präzisen Umgang mit Worten in der Geschichtspolitik.
SZ: Frau Schüler-Springorum, ist Ihnen der Ausdruck "polnische Todeslager" schon begegnet?
Stefanie Schüler-Springorum: Er wird manchmal gebraucht, wenn man allgemein über die NS-Lager redet. Aber der Ausdruck ist tatsächlich falsch. Man muss korrekterweise von Konzentrations- und Vernichtungslagern auf polnischem Boden oder im besetzten Polen reden. Manchmal werden daraus verkürzt eben die "polnischen Lager". Und das geht nicht. Dass dies für Polen inakzeptabel ist, ist völlig nachvollziehbar.
Gehen wir allgemein zu unvorsichtig mit Wörtern um?
Die Holocaust-Forschung eigentlich nicht. Aber die Öffentlichkeit manchmal schon. Um ein Beispiel zu nennen: Es kommt immer noch vor, dass man "Deutsche und Juden" sagt, anstatt von jüdischen und nichtjüdischen Deutschen zu sprechen. Das ist geradezu ein Klassiker.
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Das Gesetz soll unter anderem die Verwendung des Begriffs "polnische Todeslager" verbieten. Aus Israel und den USA kommt harte Kritik.
Bei welchen Formulierungen passen Sie besonders auf?
Ich vermeide Wörter aus der Tätersprache wie "Endlösung" oder "Ausrottung" und lege viel Wert darauf, dass ich von deutscher Mordpolitik, vom deutschen Besatzungsregime und von deutschen Tätern spreche. Und nicht verkürzt von NS-Regime oder NS-Tätern. Nazis waren sie auch, aber es war eben ein von der großen Mehrheit der Bevölkerung getragenes Regime.
Wenn der Begriff "polnische Todeslager" falsch ist, wieso gibt es darüber überhaupt Diskussionen?
Die Debatte spiegelt wider, wie komplex die Geschichte ist: Es ist zwar wichtig, darauf hinzuweisen, dass es deutsche und nicht polnische Lager waren. Aber es ist eben auch wichtig, daran zu erinnern, dass es einen sehr weit verbreiteten Antisemitismus in Polen gab. Ja, es gab Polen, die Juden unter Einsatz ihres Lebens geholfen haben. Aber es gab eben auch Polen, die Juden verraten, erpresst, ausgeplündert und manchmal auch eigenhändig ermordet haben. Es gibt viel eindrucksvolle historische Forschung dazu, zum Beispiel von Jan Gross, Jan Grabowski oder Barbara Engelking.
Eine Sache ist es, darauf aufmerksam zu machen, dass ein Begriff falsch ist, eine andere, mit Strafen dagegen vorzugehen.
Ich halte das Gesetz deshalb für eine Katastrophe. Denn die Freiheit der Wissenschaft ist ein sehr hohes Gut. Wenn wir anfangen, wissenschaftliche Kontroversen über Gesetze zu regeln, dann ist das der Anfang vom Ende. Das behindert Wissenschaft, Forschung und Diskussion.
Wissenschaft und Kunst sind ausgenommen aus der neuen Regelung. Ist damit die Freiheit der Wissenschaft nicht sicher gestellt?
Ich glaube einfach, dass man gesellschaftliche und politische Konflikte nicht über das Strafgesetzbuch regeln sollte. Man darf auch nicht übersehen: Das Gesetz richtet sich nicht allein gegen den Ausdruck "polnische Todeslager", sondern gegen alle Kolleginnen und Kollegen, die kritisch über das Verhalten der polnischen Bevölkerung während der Besatzung schreiben. Solche Forschung ist unter der aktuellen polnischen Regierung nicht besonders beliebt.
Geht es der polnischen Regierung darum, eine bestimmte Rolle Polens im Holocaust festzuschreiben?
Zumindest geht es ihr darum, bestimmte Kontroversen auszuschalten, sie nicht mehr zu thematisieren und so ein reines nationalistisches Geschichtsbild zu vermitteln. Es ist eine staatlich verordnete Nationalisierung. Es geht nicht nur um den Begriff "polnische Todeslager". Das Gesetz zielt weiter. Es geht darum, dass vorgegeben wird, wie man über polnisches Leben unter der Besatzung reden darf und wie nicht.
Wie hat sich die Erinnerungskultur in Polen entwickelt? Gibt es eine Veränderung, seit PiS an der Macht ist?
Die polnische Erinnerungskultur ist sehr gespalten. Man muss auch ganz klar sagen: Die polnische Bevölkerung hat unter der deutschen Besatzung entsetzlich gelitten. Ein Fünftel der polnischen Bevölkerung ist von den Deutschen ermordet worden. Die Deutschen sind mit Listen in Dörfer und Städtchen gegangen, haben bewusst Akademiker und Priester ermordet. Es war ein unglaublich brutales Besatzungsregime. Von Zwangsarbeit ganz zu schweigen! Und wenn man Juden half, stand darauf sofort die Todesstrafe. Es gibt wahrscheinlich keine polnische Familie, die nicht Todesopfer in ihren Reihen hat. Es ist insofern nachvollziehbar, dass Polen bis heute Wert darauf legt, dass ihr Land ein Opfer des Nationalsozialismus war. Gleichwohl gab es einen sehr weit verbreiteten Antisemitismus in der polnischen Bevölkerung, der mit dazu geführt hat, dass es zu keinen Protesten gegen den Massenmord kam und dass es so wenig Hilfe für die verfolgten polnischen Juden gegeben hat. Dies allerdings war in Deutschland und in fast allen europäischen Ländern nicht anders.
Über polnische Kollaboration mit der deutschen Besatzungsmacht wird gar nicht mehr gesprochen?
Kollaboration ist überall ein sehr schwieriges Kapitel. Unter so einer Besatzung wie der deutschen lässt sich ohnehin nicht von freien Entscheidungen sprechen. Aber es gab eben auch kleine faschistische polnische Gruppen, die bewusst Juden aufgespürt und getötet haben. Das ist schon Täterschaft. Aber das ist wirklich eine rechtsradikale Minderheit gewesen.
Deutschland verfolgt eine ganz andere Strategie in der Erinnerungs- und Aufarbeitungspolitik als Polen.
Das ist richtig, aber es hat bei uns auch 40 Jahre gedauert, bis man damit wirklich anfing. Und wenn die Alliierten nicht durch die Nürnberger Prozesse gleich nach dem Krieg deutlich gemacht hätten, dass es sich um ein verbrecherisches Regime gehandelt hat, dessen Taten verfolgt und bestraft und als solche erinnert werden müssen, dann weiß ich nicht, wie unsere Erinnerungskultur heute aussähe. Zudem war dies für die BRD die Eintrittskarte in den Westen. Aber es hat ein bis zwei Generationen gedauert, bis wir uns hierzulande wirklich mit den deutschen Verbrechen beschäftigt haben. In Polen und in anderen Ostblockstaaten herrschte ein anderes Narrativ während der Sowjetzeit, ein antifaschistisches. Dazu kommt, dass es in Polen und seinen Nachbarländern bis heute das Gefühl gibt, ein doppeltes Opfer geworden zu sein, von Faschismus und Stalinismus.
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Wie ist man in Polen im Kommunismus mit dem Holocaust umgegangen?
Man hat ihn nicht geleugnet. Er war den Menschen natürlich sehr bewusst, man hatte es ja miterlebt, mit eigenen Augen. Im kommunistischen Narrativ aber war der Feind der Faschismus, der das Land überfallen hatte, und die Polen als Nation das ganz klare Opfer. Die Juden waren damit zwar implizit gemeint, aber dies wurden nicht besonders betont. Auschwitz war ein Ort des polnischen Martyriums. Damals wurde das spezifisch jüdische Leid nicht benannt und somit tendenziell unsichtbar gemacht.
Ist das ein Grund, warum der Antisemitismus in Polen bis heute ausgeprägt ist?
Vielleicht. Aber hier spielt auch der ganz traditionelle Antijudaismus der sehr einflussreichen katholischen Kirche in Polen eine gewichtige Rolle. Hinzu kommt die antisemitische Fantasie des "Judäo-Bolschewismus", die Juden und Kommunisten zu einem Feindbild zusammenfasst, was untergründig bis 1989 und bis heute offen wirksam ist. Die Aggressionen gegen die kommunistische Herrschaft waren immer auch antisemitisch unterfüttert.
Wird mit dem neuen Gesetz ein stärkerer Akzent auf die Opferrolle gesetzt?
Ja, absolut. Aber es gab auch schon bessere Zeiten in der Erinnerungspolitik in Polen. Nach 1989 gab es einen Aufbruch und es gab durchaus rege Debatten. Es gibt auch heute Intellektuelle, Wissenschaftler, Bücher und Zeitschriften, die sich kritisch mit der Vergangenheit auseinandersetzen. Es gibt das große neue Museum der Geschichte der polnischen Juden in Warschau, das erst 2014 eröffnet wurde. Nur: Das Interesse an der kritischen Beschäftigung mit der eigenen Geschichte wird jetzt durch die PiS-Regierung kriminalisiert.
Wie kann die deutsche Öffentlichkeit am besten auf das neue Gesetz reagieren?
Es geht nicht darum, dass wir als Deutsche den Polen sagen, wie sie ihre Vergangenheit aufzuarbeiten haben. Das steht der ehemaligen Besatzungsmacht nicht zu und wäre zudem eher kontraproduktiv. Auf europäischer Ebene protestiert man ja schon gegen die Einschränkung demokratischer Freiheiten. Und wir hier in Deutschland sollten vor allem die kritischen polnischen Kollegen unterstützen, sie zu Tagungen einladen und ihre Bücher zur Kenntnis nehmen.
Als das Gesetz vom Parlament und nun auch vom Senat verabschiedet wurde, kam aus Israel heftige Kritik: Die Rolle Polens im Holocaust könnte dadurch geleugnet werden. Benjamin Netanjahu sprach sogar von einem Versuch, die Geschichte zu ändern. Können Sie das verstehen?
In Polen ist eine sehr rechtsgerichtete Regierung an der Macht. Es geht ihr darum, dass über bestimmte Aspekte des Lebens unter der Besatzung, wie die Kollaboration nicht mehr geforscht werden darf. Deshalb teile ich die Sorge von israelischer Seite. Letztes Jahr wurde der Direktor des Weltkriegsmuseums in Danzig, Pawel Machcewicz, entlassen. Dort wird nun die Ausstellung umgebaut, weil sie zu kritisch gegenüber dem polnischen Verhalten im Zweiten Weltkrieg war und nicht nur einseitig polnisches Leid in den Vordergrund stellte. Oder: Ende 2016 wurde Katarzyna Wielga-Skolimowska, Leiterin des Polnischen Kulturinstituts in Berlin, entlassen, weil sie zu viele "jüdische" Themen bearbeitet hatte. Man kann sehen, dass es einen Angriff auf die freie Wissenschaft gibt, die sich kritisch mit der polnischen Geschichte befasst.
Wird das Gesetz etwas an der Wahrnehmung der Geschichte ändern?
Ja. Wenn Geschichtsbilder verordnet werden, hat das langfristig auf jeden Fall Auswirkungen. Da sollten wir uns zuerst einmal an die eigene Nase fassen. Wenn man in der Bundesrepublik jahrzehntelang den kommunistischen Widerstand gegen den Nationalsozialismus nicht beachtet und nicht unterrichtet, dann geht das Wissen darüber genauso in Vergessenheit, wie es umgekehrt in der DDR mit dem Widerstand aus bürgerlichen oder adligen Kreisen der Fall war. Genau so wird historische "Wahrheit" erzeugt. Die polnische PiS-Regierung verfolgt eine nationalistische Politik, gerade im Kulturbereich. Es geht darum, ein positives Bild eines geeinten katholischen Polens zu produzieren. Da haben Juden und kritische Töne keinen Platz. Das neue Gesetz ist dabei aber nur die Spitze des Eisbergs.