Israel:Das Trauma geht nie vorüber

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Giselle Cychowicz wollte sich eigentlich schon in Pension verabschieden. Weil der Gesprächsbedarf bei Holocaust-Überlebenden aber das Angebot weit übersteigt, arbeitet sie auch mit fast 91 Jahren noch weiter. (Foto: Helena Schätzle)

Obwohl der Kreis der Holocaust-Überlebenden täglich kleiner wird, steigt der Bedarf an psychologischer Betreuung: Wenn das soziale Netz im Alter schwächer wird, werden die Erinnerungen noch belastender.

Von Alexandra Föderl-Schmid, Jerusalem

"Die Türen öffnen sich und vor uns stehen Leute mit der Uniform und fangen an zu schreien: Heraus! Heraus! Heraus! Mein Vater ist zuerst gesprungen, dann ich. Es herrschte furchtbares Chaos." Die bald 91-jährige Giselle Cychowicz erinnert sich an jedes Detail ihrer Ankunft im KZ Auschwitz-Birkenau am 25. Mai 1944. Mit ihren Eltern und ihrer Schwester Helen hatte sie eine dreitägige Fahrt mit dem Viehwaggon aus Chust hinter sich, das in der heutigen Ukraine liegt. "Von Auschwitz-Birkenau hatten wir noch nie etwas gehört. Aber mein Vater hat immer gesagt: Aufpassen auf die Mutti und nehmt jede Arbeit an, die man von euch verlangt! Das kann euer Leben retten."

Das Leben des Vaters zumindest hat es nicht gerettet. Er wurde nach mehrmonatiger Arbeit im Kohlebergwerk Buna-Monowitz im Oktober 1944 in Auschwitz in die Gaskammer geschickt. "Die Selektion war brutal, absolut brutal. Selektion war das schlimmste Wort im Lager", erinnert sich Cychowicz. Die Frauen überlebten und emigrierten später in die USA.

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Heute lebt Cychowicz in Israel. Ein Bild in ihrem Jerusalemer Wohnzimmer zeigt eines ihrer 21 Enkelkinder mit der israelischen Flagge in der Hand auf den Gleisen in Auschwitz-Birkenau, wo sie selbst vor fast 74 Jahren aus dem Waggon mitten ins Grauen sprang.

Erst als sie nach Israel zog, konnte sie über den Holocaust sprechen

Dabei hat Cychowicz mit niemandem über ihre Schoah-Erlebnisse gesprochen, nicht einmal mit ihrem Psychoanalytiker, der selbst Jude war. Ein Film über den Eichmann-Prozess war dann der Auslöser. "Es kam dann alles aus mir raus, wie aus einem Geysir." Als das älteste der drei Kinder elf Jahre alt war, begann sie ein Psychologiestudium, promovierte sogar.

Aber öffentlich darüber reden konnte sie erst, als sie nach 44 Jahren in den USA nach Israel übersiedelte. "Da konnte ich zum ersten Mal sagen: Ich bin eine Holocaust-Überlebende, und ich schäme mich nicht mehr dafür. Das war 50 Jahre nach der Schoah."

In Israel suchte sie eine Arbeit und kam zu Amcha, dem Nationalen Zentrum für psychosoziale Unterstützung der Holocaust-Überlebenden. Amcha, was auf Hebräisch "eine/r von uns" heißt, wurde 1987 als Selbsthilfeorganisation von Holocaust-Opfern in Israel gegründet.

Cychowicz' erster Auftrag war, in ein Betreuungszentrum für Senioren zu gehen. "Ich habe zu ihnen gesagt, dass wohl jeder mit einer persönlichen Schoah konfrontiert war, und dass man darüber reden kann." An diesem Nachmittag bildeten sich zwei Gruppen, denn die Holocaust-Überlebenden wollten endlich über ihre Erinnerungen sprechen und taten dies 14 Jahre lang, zweimal pro Woche.

Inzwischen sind 400 Psychologen im Einsatz und kümmern sich um die Holocaust-Überlebenden, von denen laut Schätzungen rund 180 000 in Israel leben. Obwohl jeden Tag 30 bis 40 von ihnen sterben, wächst die Zahl Hilfesuchender, die sich an Amcha wenden, immer noch von Jahr zu Jahr. 20 657 Menschen nahmen 2017 Unterstützung in Anspruch. Damit hat sich ihre Zahl binnen zehn Jahren fast verdoppelt, 2007 waren es 10 609.

"Im Alter werden die traumatisierenden Erinnerungen zur Belastung, wenn das soziale Netz schwächer wird, die Einsamkeit zunimmt, Partner und Freunde sterben", sagt Lukas Welz, Vorsitzender von Amcha Deutschland, das 1988 gegründet wurde und die Arbeit in Israel unterstützt. Im Alter verstärken sich auch Ängste. Denn alt zu sein, bedeutet schwächer zu werden. Wer schwach ist, das lehrte der Holocaust, überlebt nicht.

Inzwischen ist sie mehrmals nach Auschwitz-Birkenau zurückgekehrt

Nur die wenigsten schaffen es noch, in den achten Stock in der Hillel-Straße 23 zu kommen, in die Jerusalemer Zentrale von Amcha. Die meisten Betroffenen müssen zu Hause, in Altenheimen, Hospizen oder Krankenhäusern versorgt werden, was mehr Aufwand und Kosten bedeutet.

Obwohl sich Cychowicz "schon ein paar Mal von Amcha in die Pension verabschiedet hat", betreut sie noch immer drei Patienten, zwei hat sie erst zu Beginn dieses Jahres abgegeben. Die gepflegte Dame, die als orthodoxe Jüdin ihr Haar unter einer schicken mittelblonden Perücke bedeckt hält, ruft bei einer etwa gleichaltrigen Frau an und erfährt, dass sie krank geworden ist. Dann macht sie sich bereit, um im Krankenhaus eine 97-Jährige zu besuchen, die nicht mehr schlucken kann. "Sie hatte ein schreckliches Leben, viel Schlimmes erlebt und jetzt Angst vor dem Tod."

Diese Menschen hätten all die Probleme, die man im Alter habe. "Dazu kommt, dass viele einsam sind, weil sie Angehörige verloren haben. Das wird ihnen oft erst jetzt bewusst. Und die Erinnerungen, die sie quälen und die jemand, der das auch erlebt hat, besser verstehen kann." Deshalb macht die rüstige Psychologin weiter: "Ich habe ein Motto: Ich höre nicht auf, Leute zu behandeln, bis sie sterben. Wir können für Verluste und Demütigungen, die diese Menschen erlitten haben, etwas zurückgeben: Dasein und zuhören." Denn sie selbst weiß, was die Holocaust-Überlebenden mitgemacht haben. Sie erzählt es auch Jüngeren, ist inzwischen mehrmals mit Schulgruppen nach Auschwitz-Birkenau zurückgekehrt. "Wir sind durch die Hölle gegangen. Nein, das war ärger als die Hölle."

© SZ vom 30.01.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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