Poetenfest Erlangen:Nichts, wie es war

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Podiumsdiskussion über Diversität: Mithu Sanyal, Winni Modesto, Sharon Dodua Otoo und die Moderatorin Anne-Dore Krohn (v.l.). (Foto: Erich Malter/Erlanger Poetenfest)

Pandemie, der Krieg in der Ukraine und Diversität: Beim "PoetInnenfest" in Erlangen konnte man erleben, wie sich in Deutschland und im Literaturbetrieb gerade die Perspektiven verschieben.

Von Nicolas Freund

Es ist wieder so wie früher, dabei ist nichts mehr so wie früher. Nach zwei Jahren pandemiebedingten Ausweichens in teils sehr hübsche Hinterhöfe findet das Poetenfest in Erlangen wieder im Schlossgarten und den umliegenden Barockbauten statt. Dort werden die Neuerscheinungen des Herbstes von den Autoren selbst vorgestellt, und eine leichte Irritation schleicht sich am Samstag schon bei der ersten Lesung in diesen literarischen Sommernachtstraum ein, als in Shelly Kupferbergs Roman "Isidor" die Stadt Lemberg auftaucht. Lemberg ist in den Nachrichten seit Monaten unter dem ukrainischen Namen Lwiw präsent, als die Stadt im Westen der Ukraine, die zur neuen Heimat für Tausende Binnenflüchtlinge geworden ist.

Obwohl das Poetenfest wieder so stattfinden soll wie vor Corona, hängen doch über allem die Erfahrungen aus der Pandemie und die aktuellen Nachrichten aus dem Krieg in der Ukraine. Es scheint im Schlossgarten die Erwartung und Hoffnung zu herrschen, dass die Literatur Antworten oder Erklärungen für diese Weltkrisen liefern könnte. Die Literatur scheint wieder gefragt zu sein als Seismograf der Gegenwart. Dass diese Erwartung adressiert, aber nicht überstrapaziert wird, zeugt von der Klasse und dem Niveau dieses Festivals.

Diskutiert wird über den Krieg und die Bilder aus dem Kriegsgebiet

So ist der politische Teil des Programms in diesem Jahr gleich mit mehreren Veranstaltungen dem Krieg in der Ukraine gewidmet. Thomas Dworzak, Fotograf und ehemaliger Chef der Agentur Magnum, sowie die Medienwissenschaftlerin Annekathrin Kohout und die Kriegsreporterin Gabriele Riedle diskutieren über einen Aspekt des russischen Angriffskriegs, mit dem jeder schon in Kontakt gekommen ist: die Bilder aus dem Kriegsgebiet.

Dworzak erklärt, durch die Bilder der Smartphones, die immer ein wenig "crisper" aussehen als andere Fotos, erlebten wir gerade eine neue Ästhetik der Kriegsfotografie. Der Krieg erscheine, wie mit einem Geschmacksverstärker versehen, schöner als die Wirklichkeit. Kohout fügt hinzu, dass diese Amateurbilder in den sozialen Netzwerken heute neben den professionellen Fotos stehen - diese Dauerpräsenz erfordere auch von den Betrachtern eine ständige Interaktion mit dem Krieg. Gabriele Riedle wies dagegen schon gleich zu Beginn darauf hin, dass die Kriegsberichterstattung seit Homers "Ilias" ein Teilbereich der Literatur gewesen ist: "Es gab von Homer an eine ästhetische Qualität." Ein weiterer interessanter Nebenaspekt: Berichte aus dem Krieg, ob in Bild- oder Textform, waren immer auch eine Form der Unterhaltung. Der Kriegsfotograf Robert Capa veröffentlichte seine Bilder in dem Hochglanzmagazin Life.

Krieg war nicht immer, wie in den letzten Jahrzehnten in Deutschland, etwas, das nur anderen passiert. Dworzak bringt das in Bezug auf die Bilderflut in den sozialen Netzwerken auf den Punkt: "Wir hatten einen Luxus. Den Luxus der Abgekapseltheit."

Wegsehen war ein Luxus, den man sich nicht mehr leisten kann

Das sieht die Schriftstellerin Nora Bossong ähnlich. "Die sicherheitspolitischen Fragen sind lange vergessen worden." Ihr aktuelles Buch "Die Geschmeidigen" handelt von der Generation der jetzt etwa 40-Jährigen, der sie selbst angehört. Das Buch ist zufällig am Tag des russischen Einmarschs in der Ukraine erschienen und das Kapitel über eine Bundeswehrpilotin musste Bossong noch gegen die Bedenken des Verlages durchsetzen. Jetzt ist es topaktuell.

Bossong arbeitet neben dem Schreiben derzeit in der "AG Technikverantwortung" des Airbus-Konzern, wo sie sich mit ethischen Fragen neuer Luftkampfwaffensysteme beschäftigt. Deutschland habe sicherheitspolitisch und in Hinblick auf eine gesamteuropäische Strategie viel nachzuholen. Moderatorin Nana Brink fragt, ob auch der Literaturbetrieb versagt habe, über die Möglichkeit eines Krieges nachzudenken? Bossong hat eher die gesamtgesellschaftliche Debatte gefehlt. "Literatur muss nicht politisch sein und den Seismografen bedienen", antwortet sie. "Aber wenn wir uns im Feuilleton die ganz großen Debatten anschauen, dann hat es nicht mehr stattgefunden, und das war auch ein großer Luxus."

Das Wegsehen war ein Luxus, den man sich nicht mehr leisten kann und will. Wie neu die alte Welt der Literatur inzwischen ist, zeigt am Abend ein Diskussionspanel mit Mithu Sanyal, Winni Modesto und Sharon Dodua Otoo, in dem es um Erfahrungen von Minderheiten im Literaturbetrieb geht. Vor allem Sanyal, die mit ihrem Roman "Identitti" 2021 den Identitätspolitikdiskurs aufgemischt hat und betont, Diversität sei permanente Arbeit, bringt dann diesen kleinen, eigentlich längst bekannten Fakt hervor, der zeigt, wie eng die Perspektive des Literaturbetriebs manchmal sein kann: Thomas Mann, der heute als der Inbegriff des weißen, männlichen Autors zählt, war Sohn einer Brasilianerin.

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