Philosophie in Frankreich:Wie philosophisch ist Emmanuel Macron?

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Emmanuel Macron (Foto: Philippe Lopez/AFP)

Oft heißt es, der französische Präsident sei stark beeinflusst von Paul Ricoeur. Aber stimmt das? Und was bedeutet das für seine Politik? Eine Spurensuche.

Von Joseph Hanimann

Für einen, der als Assistent Paul Ricœurs bei der Schlussredaktion des Buchs "Gedächtnis, Geschichte, Vergessen" mitwirkte, hätte Emmanuel Macron sich fürs erste Amtsjahr eine weniger sperrige Gedenkagenda wünschen können.

Was macht man neben dem Andenken ans Ende des Ersten Weltkriegs, an die allgemeine Erklärung der Menschenrechte 1948, an die Gründung der Fünften Republik 1958 mit der Erinnerung an die Studentenrevolte von 1968? Der Präsident scheint zu zögern. Im Herbst hieß es, er wolle jene Ereignisse würdigen, die sein Vorgänger Sarkozy noch für den Ursprung von Eigensinn, Autoritätszerfall und verlorener Arbeitsmoral hielt. Dann hörte man, auf Regierungsebene sei zum Thema nichts vorgesehen. Nun ist offenbar doch etwas in Vorbereitung, für das auch Daniel Cohn-Bendit kontaktiert worden sein soll.

Sein Professor kann sich nicht an Macrons Diplomarbeit über Hegel erinnern

Seinen Lehrmeister Ricœur, dem als Dekan der Universität Nanterre seinerzeit von einem protestierenden Studenten ein Mülleimer über den Kopf gestülpt worden war, bezeichnete Macron einmal als Symbolfigur eines "anderen" 1968. Statt Zerstörung der bestehenden Ordnung habe er die gemeinsame Suche nach einer besseren Ordnung im konstruktiven Meinungsstreit gewollt. Der erste nach 1968 geborene Präsident folgt auch in diesem Punkt seinem Prinzip des versöhnlichen Sowohl-als-auch: ein bisschen Mystifizierung, ein bisschen Distanzierung. Der Philosoph Pierre-André Taguieff nennt das in seinem Buch "Macron: miracle ou mirage?" (Macron: Wunder oder Sehtäuschung?) die "Entpolitisierung der Politik" durch Komplexität. Gegen die populistische Streitsucht durch Vereinfachung praktiziere der Präsident eine Taktik der Konfliktvermeidung durch den Anspruch auf einen höheren Wissensstand. Er unterwandere, so warnt der ehemalige Bildungsminister Luc Ferry, durch seinen anbiedernden Kurs des Mittelwegs das demokratische Grundmuster von Position und Gegenposition.

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Doch inwiefern ist Macron überhaupt ein Zögling philosophischer Lehrmeister? Der Marx-Spezialist Étienne Balibar erklärte schnöde, an eine bei ihm geschriebene Diplomarbeit von diesem Studenten über Hegel könne er sich nicht erinnern. Und die Mitglieder des "Wissenschaftlichen Beirats des Fonds Ricœur" wiesen jüngst sichtlich genervt von den ständigen Verweisen auf Ricœur in einem Kommuniqué darauf hin, es gebe wohl eine Ricœursche Philosophie des Politischen, nicht aber eine Ricœur'sche Politik. Die Klarstellung richtete sich vor allem an die Medien. Die gegenwärtige französische Politik sei durch den Bezug auf Ricœur weder zu legitimieren noch abzulehnen. Für die nähere Zukunft kündigt der Beirat ein Kolloquium über das politische Denken Paul Ricœurs an.

Eine gewisse gedankliche Nähe Macrons zu Ricœur lässt sich schwer leugnen. Das wissenschaftliche Beiratsmitglied Olivier Abel nennt dafür Bereiche wie das Prinzip der individuellen Eigenverantwortlichkeit, die Frage des Bösen in der Politik oder die Rehabilitierung der Ideologie als strukturierendes Element der modernen Demokratie. In den Augen des Philosophen Heinz Wissmann, auch er ein Beiratsmitglied, ist der Bezug auf Ricœur freilich vor allem zur klischeebestätigenden Chiffre geworden. Die Anhänger, so erklärt er, suchten in diesem Bezug die tiefere Wahrheit von Macrons Politik, und die Gegner sähen sich in ihrer Überzeugung bestätigt, so wie Ricœur als Denker zwischen den Lagern nie klare Position bezog, sei auch Macron nur ein Weichei der politischen Mitte. Für Wissmann steht jedoch gerade eines fest: "Der fragende, nicht affirmative Grundgestus von Ricœurs Philosophie eignet sich weder zur positiven noch zur negativen politischen Auswertung."

Der Denkhintergrund des Präsidenten muss vielmehr im größeren Zusammenhang gesehen werden. Vom Jahr 2000 bis 2017 gehörte Macron dem Redaktionskomitee der Zeitschrift Esprit an, einem 1932 von Emmanuel Mounier in Abgrenzung zum atlantischen Kapitalismus und zum Sowjetkommunismus gegründeten Forum. Die Zeitschrift trägt bis heute Spuren vom Bemühen um einen "dritten Weg" und von dem, was Mounier als "Personalismus" thematisierte. Gegen die herrschenden Gesellschaftstheorien führte diese Lehre die Instanz der "Person" ins Feld, ein aus der Renaissance entwickeltes Konzept, das weder mit dem abgekapselten modernen Individuum noch mit dem traditionellen Gemeinschaftsmitglied vereinbar ist. Mit seiner einfachen Begrifflichkeit, schrieb Paul Ricœur 1992 in seinem Vorwort zu einer Ausgabe von Mouniers Schriften, habe der "Personalismus" sich allerdings gegen die großen Bewegungen Existenzialismus, Marxismus, Strukturalismus nicht durchsetzen können.

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Emmanuel Macrons Liberalismus, der nur ungern unter dieser Bezeichnung auftritt, enthält dennoch eine "personalistische" Komponente. Entscheidend ist für den Präsidenten nicht ein vom Zugriff des Staats möglichst ungehemmtes Wirtschaftsleben, sondern, wie er in seinem Programmbuch "Révolution" darlegte, die Verpflichtung des Staates, jedem Bürger die optimale Voraussetzung für seine persönliche Entfaltung zu bieten.

Wie viel Philosophie wirklich hinter Macrons politischem Wirken steckt und wie viel davon bloß Staffage einer höheren intellektuellen Ambition ist, bleibt in Frankreich umstritten. Aufschlussreich, wenn auch stark voreingenommen für den Präsidenten, ist die Auskunft von dem Mann, der Macron und Ricœur miteinander bekannt machte. Der Philosophiedozent François Dosse hat in seinem Buch "Le philosophe et le président - Ricœur & Macron" die Einflüsse minutiös untersucht. Als Ricœur ihn 1998 um die Vermittlung eines Assistenten für die Schlussredaktion seines testamentarischen Werks "Gedächtnis, Geschichte, Vergessen" bat, schlug Dosse sofort den bei ihm studierenden Macron vor. Regelmäßig fuhr der Einundzwanzigjährige dann in die Pariser Vorstadt Châtenay-Malabry hinaus, in die von Mounier gegründete Gemeinschaftssiedlung "Les Murs Blancs", in welcher Ricœur seit 1956 lebte.

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Den alten Paul Ricœur korrigierte er sehr selbstbewusst: "Neu machen!"

Diese Begegnung habe ihn aus der Denktradition von Hegel und Marx geführt und auf ganz neue Wege gewiesen, bekannte Macron später. In langen Gesprächen ließ der Student offenbar seinen ganzen intellektuellen Charme spielen, sodass der Sechsundachtzigjährige ihm neben dem Bibliografieren und Archivieren bald auch die Gegenlektüre des Manuskripts anvertraute. Dosse zitierte in seinem Buch einige Lesenotizen des Schülers an den Meister, die schon ein forsches Selbstbewusstsein verraten. "Den Begriff Chronosophie genauer definieren", heißt es einmal. "Sollte man zum Thema des Ereignisses nicht auch Paul Veyne und seine Antrittsvorlesung am Collège de France zitieren?", suggeriert der Student in einer anderen Notiz und fordert an einem wieder anderen Ort kategorisch: "Neu machen. Deuten Sie von vornherein an, dass Sie hier nur Hypothesen aufstellen."

Zeugen, die dem Präsidenten Macron im Gespräch persönlich begegnet sind, sprechen oft von seinem bisher auch im Amt ungeschmälerten Hunger nach tieferen Einsichten. Im Unterschied zu anderen Politikern scheine Macron nicht primär an unmittelbar verwertbaren Argumenten und Formulierungen seiner Gesprächspartner interessiert zu sein, sagt Heinz Wissmann, sondern ziele mit seinen Fragen auf immer tiefer liegende Fragen. Ein Teil davon mag Verführungsspiel sein, wie einst im Studierzimmer von Ricœur. Um damit glaubhaft zu sein, braucht man aber die entsprechende Kompetenz und auch eine gewisse Ernsthaftigkeit. "Dieser junge Mann weiß nicht, dass die Geschichte tragisch ist", bemerkte der Philosoph Raymond Aron nach der Wahl Giscard d'Estaings über den neuen Präsidenten. Macron demonstriert von sich aus gern seinen Sinn für das Tragische in der Geschichte. Vielleicht hängt damit zusammen, dass er über den Umgang mit dem Erbe von 1968 unschlüssig wirkt.

© SZ vom 02.02.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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