Olga Neuwirth: "Orlando":Kalendersprüche in der Oper

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Die Aufführung von Olga Neuwirths Zeitreise- und Transgender-Oper "Orlando" an der Wiener Staatsoper ist fiktiv überbordend.

Von Michael Stallknecht

In der Pause muss ein älterer Herr mit Bart anscheinend mal wohin. "Wo sind die Toiletten, bitte?", fragt er die Saaldienerin der Wiener Staatsoper. "Für Herren?", fragt sie ungerührt zurück. Schließlich kann man sich da nicht so sicher sein an einem Abend, der die fließenden Übergänge zwischen den Geschlechtern feiert. Die Komponistin Olga Neuwirth hat eine Oper gemacht aus Virginia Woolfs Roman "Orlando", der als früher Meilenstein der feministischen und der Genderliteratur gelten darf: Als junger Favorit der englischen Königin Elisabeth I. beginnt die Titelfigur am Ende des 16. Jahrhunderts ihr männliches Leben, um sich aufgrund einer unglücklichen Liebe in eine Frau zu verwandeln, die als nicht anerkannte Schriftstellerin auf Dichter wie John Dryden und Alexander Pope trifft und sich im viktorianischen Zeitalter dem Zwang zur Ehe beugt. Da der Roman im Entstehungsjahr 1928 endet, so schreibt Neuwirth die Geschichte bis in die eigene Gegenwart hinein fort: Orlando verliebt sich während der Hippiejahre in eine Frau, schreibt weiter und wird schließlich mit politischen Zeiterscheinungen wie den neuen rechten Bewegungen der Gegenwart konfrontiert.

Wie bei diesem Stoff die Epochen und Geschlechter verschwimmen, so überlagern sich auch in Neuwirths Musik die Stile, gehen Renaissancemadrigal und barocke Cembalomusik, Gustav Mahler und Cancan ineinander über, steuert eine Band auf der Bühne im zweiten Teil verstärkt Jazz, Blues und Rock bei. Allen diesen Stilen muss sich auch die Titelfigur stimmlich anschmiegen, was Kate Lindsey mit phänomenaler Wendigkeit tut. Als Mann agiert sie aus deutlich tieferer Lage denn später als Frau, bewältigt barocke Koloraturen ebenso gestochen, wie sie mit Popstimme ins Mikrofon singt. Auch im Orchester der Wiener Staatsoper verschwimmen E und U symbolisch, indem es um eine E-Gitarre und zwei Synthesizer angereichert wird, dazu spielen immer wieder Instrumentalisten aus dem Zuschauerraum. Der die umfangreiche Partie von Tablets singende Staatsopernchor ist in fast jeder Szene im Einsatz, außerdem mehrere Kinderchöre, von denen der eine über dem Luster versteckt ist, sodass die Klänge magisch von der Decke fallen. Die Klangregie sorgt zusätzlich dafür, dass sich Klänge oft nicht mehr orten lassen, live erzeugte und synthetische ununterscheidbar werden - alles in allem ein gewaltiger Apparat, den Neuwirths Komponistenkollege Matthias Pintscher am Pult mit souveräner Übersicht zusammenhält. Dabei beweist es die Raffinesse von Neuwirth als Komponistin, dass all die Zitate aus unterschiedlichen Genres nie eklektisch wirken, sondern mehr oder minder verfremdet eingeschmolzen bleiben in ein Idiom, das immer unverkennbar nach Neuwirth klingt.

Indem sich Epochen auch entgegen einer linearen Zeitlogik überlagern können, etwa der Auftritt von Englands Königin (Constance Hauman) bereits nach Swing klingt, spielt die Komposition mit dem Illustrativen, ohne darin aufzugehen. Ebenso wie die von der kinoaffinen Komponistin erdachten sechs fahrbaren Paneele mit den Videos von Will Duke auf der Bühne Räume andeuten, ohne sie zur Filmkulisse zu verfestigen. Im fiktiven Raum sollen sich Popkonzert, Kino, Performance, Theater und Modeschau zur, wie Neuwirth es im Vorfeld genannt hat, "hybriden Grand Opera" ergänzen, weshalb etwa die überbordend fantasievollen Kostüme und Masken des Modelabels Comme des Garçons bereits im Vorfeld auf Modeschauen zu sehen waren. Doch alle Fäden laufen letztlich allein bei Neuwirth zusammen, weshalb es bei ihren Uraufführungen mit schöner Regelmäßigkeit zu Krach mit den latent konkurrierenden Regisseuren kommt.

Bei aller stilistischen Vielfalt darf sich Kate Lindsey als Orlando immer nur in allzu kurzen Ariosi entfalten

So verschwand die ursprünglich vorgesehene Karoline Gruber während der Proben, um der relativ unprofilierten Polly Graham Platz zu machen. Dabei hätte eine profiliertere Regie der Oper kaum geschadet. Zumal in den drei hilflos organisierten Liebesszenen Orlandos vermittelt sich kaum etwas von der Sehnsucht, auch nicht von der ihr geschuldeten Schreibwut von Woolfs Figur. Denn bei aller stilistischen Vielfalt darf sich Kate Lindsey immer nur in allzu kurzen Ariosi entfalten, bleiben erst recht die anderen Sänger des personalintensiven Abends letztlich zu Statistenrollen verdammt, sogar der Engel des Countertenors Eric Jurenas, der Orlando als Engel begleitet.

Geschuldet ist das dem allzu simplen dramaturgischen Strickmuster, das Neuwirth und ihre Co-Autorin Catherine Filloux dem englischen Libretto zugrundelegen. Ein die Zeiten durchstreifender Roman mit auktorialer, ironisch kommentierender Erzählerin lässt sich kaum für die Bühne übersetzen, indem dort ebenfalls eine Erzählerin (Anna Clementi) die nötigsten Informationen vermittelt. Dabei wollen Neuwirth und Filloux viel, zu viel verhandeln in der für eine zeitgenössische Oper relativ umfangreichen Dauer von drei Stunden: Kindesmissbrauch im viktorianischen Zeitalter und kapitalistische Ausbeutung von Arbeiterinnen, die Einführung des E-Books als Ausdruck von Simplifizierung in der Gegenwart und den Rechtspopulismus, der gegen Ende in Gestalt einer karnevalesken Truppe nach eindeutigeren Identitäten ruft. Kenntlich bleibt der Wille, die politischen Impulse der Vorlage zur Anklage an die eigene Gegenwart zu steigern, doch wirklich narrativ oder auch argumentativ zu entfalten vermag sich in der Dichte kaum einer davon.

Für eine halbe Stunde wird das hektisch rotierende Geschichtskarussell stillgelegt, um einer Mischung aus Live-Demo und säkularem Gottesdienst für ein neues genderfluides Lebensgefühl Platz zu machen. Seine symbolische Verkörperung findet es in der Transgenderkünstlerin Justin Vivian Bond, die als Orlandos Kind den emanzipatorischen Impetus der Figur in die Zukunft führen soll. Doch das Libretto, hier vollends vom sprühenden und selbstironischen Geist Virginia Woolfs verlassen, findet dafür nur Kalendersprüche. "Wir sind alle unterschiedlich", lehrt die Erzählerin, "Humanität ist, was wir alle haben müssen." Dann geht es utopisch hinauf auf den Mond, schließlich noch in den Weltraum, der Kinderchor singt von der Bedrohtheit des Planeten Erde, ein Knabensopran wird als barocker Engel emporgezogen, Frauen und Kinder beschwören Solidarität und ein neues Bewusstsein. Was von der Komponistin als "opus summum" ankündigt war und kompositorisch virtuos ausgeführt ist, findet seine Summe hier leider nur in einem Kitsch, wie er lange nicht mehr am Ende einer zeitgenössischen Oper stand.

© SZ vom 10.12.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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