Ausstellung "No Master Territories" in Berlin:Die Unbeherrschten

Lesezeit: 3 min

Ein Filmstill aus "The Weak Woman" (1967) von Helena Amiradzibi. (Foto: Documentary and Feature Film Studios, Warschau, Polen)

Mit der Kamera raus in die Wirklichkeit: Das Haus der Kulturen der Welt zeigt, was Frauen seit den Sixties aus diesem Impuls gemacht haben.

Von Anke Sterneborg

Stellen wir uns eine Welt vor, in der jegliche Idee von Herrschaft obsolet geworden ist, nicht nur im geschlechtlichen Sinn, sondern generell. In der Frauen nicht von Männern, Arme nicht von Reichen, Machtlose nicht von Mächtigen, People of Color nicht von Weißen dominiert werden. Das mag utopisch klingen, ist so aber ganz im Sinne der Ausstellungskuratorinnen Hila Peleg und Erika Balsom. Mit ihrer Film- und Bilderschau, die gerade im Berliner Haus der Kulturen der Welt zu sehen ist, wollen sie zur radikalen Neuerfindung der Welt anstiften, jenseits aller Strukturen von Unterdrückung und Herrschaft.

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Eigentlich hatten die Kuratorinnen eine Ausstellung über die vietnamesische Filmemacherin und Theoretikerin Trinh Thi Minh-ha machen wollen, deren Essaysammlung "When the Moon Waxes Red: Representation, Gender and Cultural Politics" die Schau jetzt ihren Titel verdankt. Bei den Recherchen stießen Peleg und Balsom, die vor zwölf Jahren bereits gemeinsam das Konzept des Documentary Film Forums im Haus der Kulturen der Welt entwickelt haben, dann aber auf eine so große Fülle vielfältiger Materialien, dass sie entschieden, den Rahmen sehr viel weiter zu stecken.

Rund hundert kurze und lange Filme aus aller Welt haben sie zusammengetragen, von berühmten westlichen Vorkämpferinnen des weiblichen Blicks, wie Ulrike Ottinger (die nicht mit Filmen, sondern mit ihren dicken, vorbereitenden Künstlerbüchern vertreten ist), Chantal Akerman, Penelope Spheeris, Maya Deren oder Mira Nair. Aber auch von vielen Frauen, die auf der ganzen Welt in anderen Bereichen als Künstlerinnen, Musikerinnen, Tänzerinnen, Sexarbeiterinnen, Lehrerinnen oder Anthropologinnen tätig sind: Die Kamera nehmen sie nur gelegentlich zur Hand, um ihren Körper, ihre Identität, ihre Rolle zu erkunden, und zugleich gesellschaftliche Veränderungen zu fordern.

Der Fokus liegt auf Filmen, die jenseits des dominierenden Filmkanons entstanden sind

Dabei verzahnt sich die Kritik an der patriarchalen Ordnung häufig mit anderen Systemen der Unterdrückung, wie Kolonialismus, Kapitalismus und Rassismus. Zum Beispiel im peruanischen Film "Miss Universo en el Perú". Darin verbindet die Grupo Chaski den 1982 zum ersten Mal in Lima abgehaltenen "Miss Universum"-Wettbewerb mit dem Arbeitskampf der peruanischen Bauern. Oder in "My Survival as an Aboriginal", in dem die indigene Australierin Essie Coffey ihre persönlichen Lebensumstände mit der Marginalisierung und Unterdrückung der australischen Ureinwohner verknüpft.

Der Schwerpunkt der Ausstellung liegt auf den drei Jahrzehnten, die den Umbrüchen der 68er-Revolution folgten und in denen das teure Geschäft des Filmemachens durch kleinere, leichtere und erschwinglichere Kameras demokratisiert wurde. Der Fokus liegt auf Filmen, die jenseits des dominierenden Filmkanons entstanden sind, also nichtfiktionalen Formaten wie Experimentalfilm, Dokumentation und Lehrfilm, die für Frauen leichter zugänglich waren. Die Filme sind so unterschiedlich und vielfältig wie ihre Herkunft, 100 Perspektiven auf weibliche Wahrnehmung, mal sachlich distanziert, mal verspielt, mal subversiv gewitzt, mal kämpferisch und wütend.

Die Übergänge zwischen Experiment, Videoclip und Fernsehfilm sind fließend, fast allen haftet mit ihren grobkörnig schwarzweißen, bunt flimmernden, animierten und collagierten Bildern ein Hauch von Underground an. Oft sind die Filme in Kollektiven entstanden, und selten waren sie im Kino zu sehen. Manche von ihnen werden im Rahmen der Ausstellung zum ersten Mal prominent gezeigt, wie die restaurierte Fassung von "Mi aporte" von Sara Gómez über die Erfahrungen afrokubanischer Frauen nach der Revolution.

Nicht den Pfeilen folgen: Durch die Ausstellung sollen Besucher und Besucherinnen ihren eigenen Weg finden. (Foto: Studio Bowie/HKW)

Die Idee des titelgebenden "No Master Territories" haben die Kuratorinnen konsequent auch auf das Konzept der Ausstellung angewendet. Statt eine "Master-Erzählung" in Gestalt eines Rundgangs vorzugeben, laden sie dazu ein, eigene Wege zu gehen und persönlichen Assoziationsketten zu folgen. Von den Filmstudentinnen der DFFB zum Beispiel, die in "Women's Camera" den nüchternen Tonfall einer Kameraschulung mit gängigen Stereotypen unterlaufen, indem sie Frauen bei niederen Küchenarbeiten filmen, über Robin Laurie und Margot Nash, die in "We aim to please" gesellschaftlich diktierte Schönheitsideale aufs Korn nehmen, zur französischen Schauspielerin Delphine Seyrig, die in ihrem Kurzfilm "Pour mémoire" die Beerdigung von Simone de Beauvoir reflektiert.

In demokratischer Vielstimmigkeit buhlen die Filme um Aufmerksamkeit, von vielen Monitoren und Leinwänden in der großen Ausstellungshalle, aber auch im Kino des Hauses der Kulturen der Welt und online. Selbsterkundungen wechseln mit Kampfansagen und Dokumenten vom Kampf um Gleichberechtigung und Arbeitsrechte, und - gerade heute brandaktuell - um legale Schwangerschaftsabbrüche und für den Frieden. Fotos und Texte dokumentieren die Entstehung und Rezeption der Filme. Eine Fülle von begleitenden Veranstaltungen, Podcasts und die Texte des Katalogbuchs vertiefen den Themenkomplex der feministischen Weltfindung im bewegten Bild, von den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts bis in die Gegenwart und darüber hinaus.

No Master Territories. Feminist Worldmaking and the Moving Image , Haus der Kulturen der Welt Berlin, bis zum 28. August 2022.

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