Nick Drnasos Graphic Novel "Acting Class":Aber wer bewegt den Zeiger?

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Schauspielkurs oder Therapiestunde? Szene aus "Acting Class". (Foto: Aufbau/Blumenbar)

Der Graphic-Novel-Superstar Nick Drnaso erzählt in "Acting Class" von der Mutlosigkeit der amerikanischen Gesellschaft.

Von Fritz Göttler

Sein Name ist John Smith, ein Name, den man, das sagt er selbst, schnell vergisst. Aber John Smith ist die entscheidende Figur im neuen Buch von Nick Drnaso, der mit "Sabrina" die erste Graphic Novel zeichnete, die für den legendären - literarischen - Booker Prize nominiert wurde. Sein neues Werk heißt "Acting Class", und John Smith ist der Lehrer dieses Kurses, ein Lebenshilfe-Unternehmen, mit dem er das Leben von zehn sehr durchschnittlichen Amerikanern und Amerikanerinnen durcheinanderbringt - die ersten vier Stunden sind unentgeltlich, zum Probieren. Nicht ums Schauspielern geht es in dieser acting class - sondern ums Agieren allgemein, ums Handeln, ums Ausagieren von Problemen.

Worum es ihm geht, zeigt er seinen Schülern am Hausmeister Wade, wie der gerade die Laderampe wischt: "Schaut, seine Bewegungen. Sein fließender Rhythmus, wie ein Tänzer. Die Laderampe ist seine Bühne. Schaut, wie er sie beherrscht. Das hat keine Methode. Es ist pure Präsenz."

Auch Mutterschaft garantiert kein Glück, kann vielmehr eine surreale, beängstigende Erfahrung sein. (Foto: Aufbau/Blumenbar)

John Smith ist ein Profi, als methodischer Lehrer, als Drahtzieher, einer, der die Leute in Rollenspiele hineinmanövriert und wieder rauslockt, sie motiviert und manipuliert. "Der Kursanfang gibt mir immer so viel Kraft, besonders jetzt, in dieser düsteren, kalten Zeit", erklärt er zu Beginn mit frivoler Koketterie. Die Spiele, die er anbringt, sind ganz und gar alltäglich. Ein großes Ziel, das er mit seinem Programm verfolgen könnte, lässt sich nicht erkennen. "Ihr werdet jemandem in die Augen sehen und intuitiv eure Beziehung zueinander verstehen. Es ist wie bei einem Ouija-Brett. Ihr alle erzählt eine Geschichte, aber wer bewegt den Zeiger?" Im Moment, da er das sagt, liegt ein animalisches Grinsen in seinem Gesicht.

Es ist alles drin in dieser Geschichte, im Leben der zehn Figuren, Einsamkeit und Enttäuschung, Erinnerung und Verdrängung, Gleichgültigkeit und Apathie, Demütigung und Masochismus, auch Hoffnung auf Selbstbestimmung. Ein Ehepaar hat sich auseinandergelebt, einer Mutter wächst ihr Kleinkind über den Kopf, ein junger Mann, der als Modell für Malkurse arbeitet, will plötzlich nicht mehr nackt posieren, ein anderer ist völlig verklemmt und sieht sich mit Vorwürfen konfrontiert, er hätte in seiner Jugend kleine Jungs sexuell misshandelt. Richtig gespenstisch werden diese Alltagsgeschichten, wenn das Normale und Monotone in ihnen plötzlich aufbricht, durch Groteskes und Surreales. Einer wird von fiesen Polizisten verhaftet und in Häftlingskluft gesteckt, er muss das Klo in seiner Zelle mit der Zunge säubern. "Zum Schluss leckst du noch den Sockel ab. Schön den Dreck aus allen Ecken rausholen."

Zynismus, der aus der Isolation erwächst

Das ist eine Menge an hartem, verstörendem Stoff für einen jungen Erzähler, Nick Drnaso ist Jahrgang 1989, und in seiner Jugend hat er fasziniert über schaurige Morde gelesen oder über die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl. Mit zehn, erzählt er, wurde er sexuell missbraucht von einem Nachbarjungen, in der Folge gab es immer wieder Depressionen. "Da vereinfacht es die Dinge ein wenig, wenn man um sie herum eine Erzählung, ein Narrativ fabriziert, um eine Ursache und eine Wirkung zu schaffen." Vor allem während der Isolation durch die Covid-Lockdowns boten die Stories der "Acting Class" eine Art Aufschub und Schutzraum, ein Gefühl der Geborgenheit. "Es erlaubte mir, eine Gemeinschaft auszudenken und in ihr zu leben." Man darf sich von diesem Narrativ, von dieser Gemeinschaft nicht zu viel erwarten. Nick Drnaso spinnt keine logische Geschichte, sondern ein Gewebe, das sich immer weiter ausbreitet, mit vielen losen Enden. Immer wenn man eine Figur, eine Situation zu durchschauen meint, lässt er im nächsten Bild alles wieder kippen.

John Smith (links unten) und seine Schauspielklasse. (Foto: Aufbau/Blumenbar)

Die Titelschrift auf der ersten Seite ist in lebhaften Farben, darunter Figuren in leeren Konturen, wie zum Ausmalen für Kinder bestimmt. Der Eindruck trügt, das Leben, das sich dann im Buch entwickelt, ist von trostloser Monochromie, immer gleichmäßig ausgeleuchtet, die Räume ohne Inspiration möbliert, Beige und Grau dominieren, Orte für amerikanische Tristesse, für kleinbürgerliche Neurosen einer mutlosen Gesellschaft. Die Gesichter der zehn Menschen sind einfach gezeichnet und kaum zu unterscheiden, keine individuelle Emotion ist auf ihnen zu erkennen, nur Ratlosigkeit und Langeweile. Die meiste Zeit stehen oder hocken sie in den Klassenräumen herum und warten auf John. Die präzise, abwechslungsreiche Gestaltung der Ausschnitte und Perspektiven, die grafische mise en scène, spricht der Bedeutungslosigkeit, der Langeweile dieser Leben Hohn.

Das Buch ist eine unglaubliche Tour de Force zwischen Isolation und Immersion - und es gibt hier, erklärt Nick Drnaso, einen Zug von Zynismus, der aus Isolation erwächst. Immer wieder rutscht man in eine eingebildete, traumhafte Welt, wacht überrascht daraus wieder auf, ohne dass eine Situation geklärt, ein Schmerz geheilt wäre. Das Narrativ, von dem Nick Drnaso spricht, hat viele Leerstellen und bleibt bis zum allerletzten Bild mysteriös und monströs.

Nick Drnaso: Acting Class. Aus dem Englischen von Daniel Beskos und Karen Köhler. Blumenbar Verlag, Berlin 2022. 268 Seiten. 28 Euro. (Foto: Aufbau/Blumenbar Verlag)

Gegen Ende geht es ins Freie, mit viel Luft und Natur, aber alles zieht sich weiter zusammen um die Figuren, die fünfte Stunde beginnt. Läuft es auf eine Verschwörungstheorie hinaus, nach über zweihundertfünfzig Seiten? Neun der zehn Schüler fahren mit John Smith davon. Es ist eine Verschwörung ohne Verschwörer, die einen ratlos lässt, wie in den Filmen von David Lynch. "Wir bringen Talente aus dem ganzen Land zusammen. Dort geht die eigentliche Arbeit los", sagt John. In diesem Moment ist das Grinsen zurück in seinem Gesicht, und die Augen leuchten drohend.

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