Netzkolumne:Ohrfeige live

Lesezeit: 2 min

Der Entertainer als Roboter, das erinnert nicht selten an Shows im guten alten Privatfernsehen. (Foto: Dado Ruvic/Reuters)

Wie die großen Tech-Firmen Apple und Google am Trend des "NPC-Streamings" auf Tiktok mitverdienen.

Von Michael Moorstedt

Auf Tiktok tummeln sich längst mehr Marken als Menschen. Einige haben immer noch nicht verstanden, dass die App kein soziales Medium ist, sondern vielmehr ein Unterhaltungskanal, dem linearen Fernsehen nicht unähnlich. Viel interessanter ist deshalb die Livestreaming-Funktion der App. Wenn jeder die Möglichkeit hat, seine Wahrheiten und sein Leben ins Internet zu senden, welches Bild ergibt sich dann? Wie ist der Zustand der Menschen? Was finden sie amüsant, worüber sprechen sie?

Tiktok live wirkt konsequenterweise mitunter wie eine hoch verdichtete Version des Late-Night-Programms im frühen Privatfernsehen. Das war damals ja auch eine weitgehend gesetzlose Zone, in der vieles ausprobiert wurde. Manchmal bedient man sich sogar der Mechaniken der medialen Vorgänger: Gerade eben wurde eine plattformweite Musikcasting-Herausforderung ausgeschrieben, ein Brausehersteller schickt ein paar Influencer in ein Kamerahaus so wie damals bei Big Brother. Dabei ist unklar, ob solche inzwischen vergleichsweise harmlosen Rezepte heutzutage noch ziehen. Denn der Kampf um die Aufmerksamkeit ist hart und permanent.

Die "Stars" des NPC-Streaming nehmen in ein paar Stunden Tausende Dollar ein

Da gibt es jene, die sich stets beim Schlafen filmen und das live übertragen. Ein anderer gibt sich eine Ohrfeige, jedes Mal, wenn die Zuschauer einen kleinen Geldbetrag überweisen. Dazwischen findet man ein ganzes Füllhorn von Absonderlichkeiten und Televermarktungsabzockerei. Jemand filmt sein Aquarium, eine andere sendet live aus der Küche, wo simultan gekocht und das Kind gewickelt wird.

Der neueste Trend nennt sich NPC-Streaming. Dabei verhalten sich die Protagonisten wie Charaktere in einem Computerspiel. Typischerweise sind deren Dialoge und Verhalten vorprogrammiert, und genau diese Muster werden von den Darstellern imitiert. Jedes Mal, wenn ein Zuschauer ein Trinkgeld spendet, gibt der Streamer die gleichen Sätze von sich oder führt die gleichen Bewegungen aus.

Der Entertainer wird auf diese Weise zum Roboter, mechanisch, ohne eigene Motivation oder inneren Dialog, fernsteuerbar. Im Zeitalter von künstlicher Intelligenz ist das freilich eine naheliegende Reaktion auf den Zeitgeist, wenn auch unbewusst. Was für den uneingeweihten Passanten allenfalls klingt wie eine dadaistische Kunstaktion, ist dabei längst ein gut gehendes Geschäft. Die "Stars" des NPC-Streaming nehmen in ein paar Stunden Tausende Dollar ein.

SZ PlusNPC-Trend in den sozialen Medien
:Lenk mich

Auf Tiktok ahmen Nutzerinnen passive Nebenfiguren aus Videospielen nach und verdienen damit Tausende Dollar am Tag. Über den Reiz der Fremdbestimmtheit.

Von Joshua Beer

Immer dabei sind jedoch die Zuschauer, die sich in den Stream einbringen können. Wer sendet, ohne zu interagieren, hat keine Chance. Unterhaltung muss maximal immersiv und akut sein. Das Erfolgsrezept hat sich im Vergleich zu Liveformaten im Fernsehen nicht wesentlich verändert. Es geht darum, Vorfreude und Erwartungen des Publikums zu verlängern und auch die Beiträge der Nutzer zu belohnen und anzuerkennen.

Angetrieben wird dieses vibrierende Ökosystem von sogenannten Gifts, also Geschenken. Dabei handelt es sich um kleine Emoji-ähnliche Bildchen, etwa eine Rose, einen Basketball oder einen Cowboyhut. Umgerechnet kosten die einzelnen Gifts die Zuschauer meistens nicht mehr als ein paar Cent. Es ist die Masse, die es macht. Marktforscher schätzen, dass die Nutzer durch die gamifizierten Mikrotransaktionen mehr als eine Milliarde US-Dollar pro Quartal ausgeben.

Um die virtuellen Geschenke zu erhalten, müssen die Zuschauer eine zweite Währung namens Coins über die App kaufen. Und wenn Käufe über Apple oder Google getätigt werden, erhalten diese Unternehmen eine Provision. Die Streamer verdienen also Geld für Tiktok, das wiederum den globalen Tech-Giganten Geld einbringt. Die ökonomische Nahrungskette in der medialen Jetztzeit ist lange und kompliziert.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ PlusKI-Serie "Wahnsinn und Methode"
:Wenn der Sexroboter Nein sagt

Darf der Mensch ihn trotzdem nutzen? In der Diskussion um die Rechte künstlicher Intelligenzen stehen die Gesetzgeber vor großen Entscheidungen.

Von Ronen Steinke

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: