Es gibt einen großartigen Essayband der feministischen Journalistin und Autorin Rebecca Solnit, der im April auf Deutsch erscheinen wird und dessen Titel sehr gut als Leitgedanke für die großen Debatten dieser Tage taugt: "Call Them by Their True Names" - die Dinge beim Namen nennen. Der Titel bezieht sich auf die Probleme in Solnits Heimat USA, auf das Leben in einem Land, das von einem frauenfeindlichen und rassistischen Präsidenten regiert wird. Aber er passt auch erschreckend gut in diese Woche nach dem Terroranschlag von Christchurch, bei dem in zwei Moscheen 50 Muslime ermordet wurden.
Nur wer die Dinge beim Namen nenne, schreibt Solnit, "kann den Lügen ein Ende setzen, die entschuldigen, abdämpfen, verwischen und verschleiern, und die Untätigkeit und Gleichgültigkeit bestärken."
Die bessere Nachricht im Zusammenhang mit dem Attentat von Christchurch ist nun, dass abgesehen von ein paar Ausnahmen ( etwa Annegret Kramp-Karrenbauer) die reflektierteren Politikerinnen und Politiker und Medien die Tat als das bezeichnet haben, was sie ist: das aus anti-muslimischem Rassismus befeuerte Hassverbrechen eines Rechtsterroristen. Das ist gut und wichtig. Ein weiterer, essentieller Zusatz wird allerdings nicht oft genug benannt: Es war das Hassverbrechen eines männlichen Rechtsterroristen.
Der Anschlag von Christchurch erfüllt damit ein allzu bekanntes Muster - ein Muster, das sich nicht nur bei Rechtsterroristen findet, sondern auch bei Schul-Amokläufern oder Dschihadisten: Ein junger Mann radikalisiert sich und wird zum gewalttätigen Extremisten oder vermeintlichen Rächer. In jedem einzelnen Fall gibt es konkrete politische und soziale Hintergründe, die es zu benennen und zu analysieren gilt. Es gibt aber auch eine große Gemeinsamkeit: eine sehr spezifische Geschlechterperspektive.
Männlichkeit und Gewalt sind in unserer Gesellschaft so eng miteinander verwoben, dass der Zusammenhang kaum noch erwähnenswert erscheint - oder möglicherweise tatsächlich nicht mehr auffällt. So normal, so alltäglich wie der morgendliche Stau.
Gewalt und Aggression sind schließlich fester Teil des tradierten Männerbildes nahezu aller Gesellschaften - in unterschiedlichen Ausprägungen und Dosierungen selbstverständlich: akzeptiert in vielen, heroisiert in manchen, wirklich geächtet in den wenigsten. Es beginnt bei der Durchsetzungsfähigkeit am Konferenztisch und geht über die ehrverteidigende Kneipenschlägerei bis zum Bild des tapferen Soldaten. Über Männer sagt man Sätze wie: "Der musste einfach mal Dampf ablassen!" Der Mann als Druckkochtopf. Gewalt als Ausdrucksmittel männlichen Frusts. Im Falle von gewaltbereiten Extremisten geht es um eine ganze Menge Frust.
Der US-amerikanische Soziologe Michael Kimmel hat ein Buch über das Zusammenspiel von Männlichkeit und Extremismus geschrieben. "Healing From Hate" heißt es, und Kimmel schreibt darin über den Typus des Extremisten: "Das sind junge Männer, die sich klein fühlen, die es hassen, dass die Welt sie dazu bringt, sich klein zu fühlen, und die versuchen, sich wieder groß zu fühlen, indem sie andere zerstören."
Diese Männer fühlen sich als Opfer, benachteiligt, übervorteilt. Kimmel hat dafür einen Begriff geprägt: aggrieved entitlement. Gekränkte Anspruchshaltung. Er bezeichnet ein männliches Anspruchsdenken, das seit einiger Zeit in modernen, progressiven Gesellschaften, und seit jeher in kapitalistischen Konkurrenzstrukturen, nicht befriedigt wird - und deshalb zu Frustration führt. Es fußt auf dem fehlgeleiteten Glauben, ein Recht auf sexuelle Erfüllung und Befriedigung zu haben, oder auf wirtschaftlichen und sozialen Erfolg. Ein Recht, über den weiblichen Körper verfügen und bestimmen zu dürfen, oder - ganz allgemein - ein Recht, andere zu dominieren.
Wer genau zwischen den Männern und der Erfüllung dieser vermeintlichen Rechte steht, unterscheidet sich von Ideologie zu Ideologie und von Wirtschaftsform zu Wirtschaftsform. Für die einen sind es Feministinnen, die Diktatur der "politisch Korrekten", der Vorgesetzte. Für andere sind es Juden, Flüchtlinge, Migranten oder die sündhafte westliche Welt.
In quasi allen Fällen ist es aber diese männliche Kränkung, vermeintlich keinen Platz in der Welt zu haben, die Männer zuerst in den Extremismus zieht - und erst in zweiter Linie die politische Ideologie. Das sagt der norwegische Extremismusforscher Tore Bjørgo. In extremistischen Gruppen finden junge Männer Kameradschaft und Gemeinschaft. Im Kollektiv finden sie Bestätigung für eine problematische Form von Männlichkeit, für die der Raum in der restlichen Gesellschaft immer kleiner wird.
Gewalt scheint der letzte Ausweg zu sein, verloren geglaubte Privilegien zurückzuerobern
Natürlich geht es bei der Frage, ob jemand zum Rechtsterroristen, Dschihadisten oder Amokläufer wird, auch um ökonomische Umstände, um familiäre Hintergründe und individuelle psychologische Gründe. Extremismusforschung aber, die sich ausschließlich auf diese Faktoren konzentriert und die Rolle der gekränkten Männlichkeit außer Acht lässt, sei unvollständig, schreibt Michael Kimmel. Für sein Buch hat er Extremismus-Aussteiger aus Deutschland, Schweden, Großbritannien und den USA getroffen. "Männlichkeit ist sowohl die psychologische Inspiration für junge Männer, sich diesen Gruppen anzuschließen, als auch der soziale Klebstoff, der sie dort hält. Gewalttätigen Extremismus zu bekämpfen bedeutet daher, diesen jungen Männern als Männer zu begegnen, nicht nur als Dschihadisten oder Neonazis oder white supremacists."
Das soll nun nicht zu Gleichmacherei führen, denn natürlich gibt es Abstufungen. Selbst als Terroristen sind weiße Männer "privilegiert". Sie werden meist als Einzeltäter wahrgenommen und nicht als Teil einer Bewegung. Ein Islamist wird eher zum Stellvertreter der gesamten muslimischen Gemeinschaft. Ein weißer Nationalist erscheint immer noch eher als Einzelfigur und -schicksal.
Was alle Ausprägungen von gewalttätigem Extremismus jedoch eint: Für einige junge Männer scheint er der letzte Ausweg zu sein, verloren geglaubte Privilegien zurückzuerobern. Extremismus nutzt fragile und gekränkte Männlichkeit aus, indem er jungen Männern einen vermeintlichen Weg aufzeigt, wieder zum "echten Mann" zu werden. Eine Gesellschaft, die Extremismus effektiv bekämpfen will, muss daher auch die Vorstellung einer Männlichkeit bekämpfen, die sich über Dominanz, Gewalt und Kontrolle definiert.