Darum ging es in seiner Charakterstudie "Margaret", 2004 begonnen, nach schrecklichen Kämpfen in Schneideraum und Gerichtssaal aber erst 2011 verstümmelt erschienen. Inzwischen gibt es eine Dreistundenfassung, die so etwas wie das letzte Wort in der Beschreibung einer intellektuellen New Yorker 17-Jährigen ist, gespielt von Anna Paquin. Und obwohl der Ruhm dieses Films unter Eingeweihten noch stetig wächst, hatte Lonergan dem Kino danach verbittert abgeschworen. Erst sein Freund Matt Damon brachte ihn mit einem Auftragsdrehbuch, aus dem dann "Manchester by the Sea" wurde, zum Schreiben für den Film zurück. Und zwang den Kumpel praktisch dazu, selbst wieder Regie zu führen.
Der Grund wird klar, wenn man jetzt Casey Affleck und den jungen Lucas Hedges zusammen auf der Leinwand sieht. Man kann sich einfach keinen Filmemacher vorstellen, der so viel von Teenagern versteht und zugleich von den Abgründen des Verlusts so angezogen wird. Was zum Teil auch überraschend komisch ist, denn der junge Patrick verarbeitet das alles doch ganz anders als sein verstörter Onkel. Die Eroberung seiner beiden Freundinnen zum Beispiel, die nichts von einander wissen dürfen, treibt er bald wieder systematisch voran. Dass er dabei energisch Hilfe verlangt, bringt unerwartetes Leben in Lees katatonische Existenz.
Zugleich aber werden jetzt, in einem sorgsamen Plan der Enthüllung, dem Rückblenden-Puzzle der Vergangenheit immer weitere Teile hinzugefügt: Lee als eine Art charmanter Schluffi mit seiner Ex-Frau Randi (Michelle Williams), die auch immer noch in der Gegend lebt; Lee als liebender, leicht chaotischer Vater. Was hat ihn nur so verändert, fragt man sich, und wo ist seine Vergangenheit geblieben?
Filme, die sich so viel trauen wie dieser, sind leider selten geworden
Die Antwort kommt, unaufhaltsam genug, und sie kann hier nur angedeutet werden als ein Gefühl: Ein Moment in der Nacht, in dem ein Mann zum Zuschauer seines eigenen Schicksals wird. Ohne dass er noch die Kraft hätte, in die erste Reihe vorzutreten, und ohne dass die Wahrheit dessen, was er da mitansehen muss, noch ganz zu ihm durchdringen kann. Er steht einfach nur da, die Schultern hochgezogen, die Hände in den Taschen seiner Jacke vergraben, und es ist dann die durchgehende Signatur von Casey Afflecks Performance, dass die Hände aus diesen Taschen eigentlich nie wieder herauskommen werden.
Kenneth Lonergan möchte diesem Lee Chandler begegnen, wie auch manche Frauen in "Manchester by the Sea" ihm begegnen wollen, angezogen von seinem dunklen Magnetismus. Er möchte dann aber nicht erschrocken und erschüttert zurückzucken. Er möchte in eine Seele schauen, in der nichts mehr ist. Ohne ein Verstehen, das nur behauptet wäre, und ohne eine Hoffnung, die es nicht gibt. Die Momente sind selten, in denen das Kino solchen Mut beweist.
Manchester by the Sea, USA 2016 - Buch und Regie: Kenneth Lonergan. Kamera: Jody Lee Lipes. Musik: Lesley Barber. Mit Casey Affleck, Lucas Hedges, Michelle Williams. Universal, 138 Minuten.