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"Manchester by the Sea" im Kino:In eine Seele schauen, in der nichts mehr ist

Selten zeigt ein Film so viel Mut wie "Manchester by the Sea": Mit tiefen Abgründen voll Gleichgültigkeit und einem Casey Affleck, der gewaltige Dämonen mitbringt.

Filmkritik von Tobias Kniebe

Meistens weiß man ja doch nach drei Sätzen, wer jemand ist und wo sein Problem liegt. Im Kino sowieso. Weil sich die Filmemacher in der Regel selbst sehr sicher sind, was ihre Figuren betrifft, und weil sie meistens keinen Grund sehen, das zu verbergen. Lee Chandler allerdings, um den es hier geht und der zunächst in seinem Alltag als Hausmeister vorgestellt wird - der ist schon ein besonderer Fall.

Seine Stimme zum Beispiel. Sie hat eine gewisse grundlegende Tonlosigkeit, den Klang des geringsten Widerstands. Er sagt meist nur das, was für die Arbeit oder das soziale Überleben gerade erforderlich ist. Sätze wie "Ich denke schon" oder "Ist schon in Ordnung". Dann schweigt er wieder und hofft, dass man ihn einfach in Ruhe lässt. Unter seiner Höflichkeit und Zurückhaltung liegt ein Schulterzucken, eine fundamentale Gleichgültigkeit. Er will niemanden belästigen, aber er wird sich auch nicht mehr verbiegen für die Aussicht auf Besserung. Manchmal rutscht ihm ein "Ist mir doch scheißegal" heraus, heftig und endgültig. Dann sind alle sehr konsterniert. Und wenn sein Job nicht schon so mies wäre, dass ihn niemand außer ihm machen will, würde man ihm in diesem Moment kündigen.

Manchmal sucht er jemanden, dem er die Faust ohne Vorwarnung ins Gesicht schlagen kann

Andererseits muss es ja einen Grund haben, dass Lee Chandler die Hauptfigur des Films "Manchester by the Sea" ist; und dass der New Yorker Dramatiker und gelegentliche Filmemacher Kenneth Lonergan seine ganze, inzwischen wirklich brillante Kunst der Charakterisierung einsetzt, um uns Zuschauern gerade diesen Mann näherzubringen. Es geht um die Studie eines, wie man noch sehen wird, exemplarischen Lebens.

Was Lees Wunsch nach Ruhe gelegentlich im Weg steht, ist sein ebenmäßiges, jungenhaftes, ziemlich hübsches Gesicht. Die Frau mit der verstopften Toilette zum Beispiel ist in ihn verliebt, und die Frau in der Kneipe schüttet ihr Bier auf seine Jacke, absichtlich, um ihm näher zu kommen. Diese Frauen aber begegnen einem Blick, hinter dem ein Abgrund von Gleichgültigkeit liegt. Erschrocken und ein wenig erschüttert zucken sie zurück.

Ab und zu am Wochenende, wenn Lee sehr viel getrunken hat, sucht er sich einen beliebigen Mann, dem er seine Faust ohne Vorwarnung ins Gesicht schlagen kann. Das gibt dann immer Tumult. Danach ist sein Gesicht oft nicht mehr ganz so hübsch.

Die Angst vor dem Unvorstellbaren, das ihm widerfahren ist

Gibt es Rollen, die auf bestimmte Schauspieler warten? Jedenfalls scheint es so, wenn man Casey Affleck hier sieht. Er ist der kleine, scheue Bruder von Ben Affleck, und er bringt seine eigenen Lasten mit. Es gibt aktenkundige Fälle von zwei Filmkolleginnen, die behaupten, er habe sie mit bizarrem Verhalten tief verstört, weshalb sie wegen sexueller Belästigung gegen ihn geklagt haben. Casey Affleck hat die Vorwürfe klar bestritten, sich aber auf außergerichtliche Einigungen eingelassen. Im Vorlauf des Golden Globe, den er gerade gewonnen hat, und des Oscars, den er bald gewinnen könnte, wurde die Geschichte wieder heftig diskutiert. Aber die Vorwürfe scheinen ihn in diesem Fall als Schauspieler nicht zu diskreditieren. Es könnte daran liegen, dass auch in seiner Performance so viel Verstörung liegt.

Notorisch ist jedenfalls auch die Figur Lee Chandler, was klar wird, als der Mann in seine Heimatstadt zurückkommt. Manchester-by-the-Sea ist ein realer Ort an der Küste von Massachusetts, mit vielen Möwen, einem Bootshafen und einer wirklich sehr zauberhaften Bucht. Als die Leute in Manchester hören, dass Lee wieder in der Stadt ist, sagen sie Sachen wie: "Der Lee Chandler?" "Ja, genau der."

Es liegt Angst in diesen Worten, aber es ist keine Angst vor Lee. Es ist die Angst vor dem Unvorstellbaren, das ihm widerfahren ist. Und die Erleichterung, nicht in seiner Haut zu stecken.

Es geht um das Weitermachen nach einem Verlust

Die Rückkehr ist nötig, weil Lees Bruder nach langer Krankheit gestorben ist und weil er Lee, ohne ihm das vorher zu sagen, die Vormundschaft für seinen 17-jährigen Sohn Patrick übertragen hat. Nun ist es einerseits Wahnsinn, Lee mit irgendwem zusammenzuspannen. Andererseits war Lee zum Beispiel dabei, als sein Neffe vor Jahren seinen ersten riesigen Blaubarsch gefangen hat, draußen in der Bucht, und auch das Glück in diesen Rückblenden ist eine Verbindung, die man nicht einfach kappen kann.

Es geht für diese beiden jetzt also um das Weitermachen nach einem Verlust, und das war schon immer das treibende Thema bei Kenneth Lonergan, der, wenn er selbst Regie führt, ein amerikanischer Autorenfilmer in der kompromisslosesten Bedeutung des Wortes ist. Schon "You Can Count On Me", sein Debüt aus dem Jahr 2000, begann mit einem Lastwagen, der nachts auf ein Ehepaar im Auto zurast - und erzählte dann, Jahrzehnte später, von den beiden Geschwistern, die in jener Nacht zu Waisen wurden, gespielt von Laura Linney und Mark Ruffalo. Schon da ging es um Wunden, Verstörungen und Unmöglichkeiten, aber noch vergleichsweise unbeholfen. Lonergan verfeinerte seine Kunst der Menschenbeobachtung dann am Theater, vor allem am Off-Broadway, und entdeckte ein weiteres Lebensthema - die Klugheit und zugleich Unsicherheit, vor allem aber die Radikalität und Ehrlichkeit der Teenager.

Darum ging es in seiner Charakterstudie "Margaret", 2004 begonnen, nach schrecklichen Kämpfen in Schneideraum und Gerichtssaal aber erst 2011 verstümmelt erschienen. Inzwischen gibt es eine Dreistundenfassung, die so etwas wie das letzte Wort in der Beschreibung einer intellektuellen New Yorker 17-Jährigen ist, gespielt von Anna Paquin. Und obwohl der Ruhm dieses Films unter Eingeweihten noch stetig wächst, hatte Lonergan dem Kino danach verbittert abgeschworen. Erst sein Freund Matt Damon brachte ihn mit einem Auftragsdrehbuch, aus dem dann "Manchester by the Sea" wurde, zum Schreiben für den Film zurück. Und zwang den Kumpel praktisch dazu, selbst wieder Regie zu führen.

Der Grund wird klar, wenn man jetzt Casey Affleck und den jungen Lucas Hedges zusammen auf der Leinwand sieht. Man kann sich einfach keinen Filmemacher vorstellen, der so viel von Teenagern versteht und zugleich von den Abgründen des Verlusts so angezogen wird. Was zum Teil auch überraschend komisch ist, denn der junge Patrick verarbeitet das alles doch ganz anders als sein verstörter Onkel. Die Eroberung seiner beiden Freundinnen zum Beispiel, die nichts von einander wissen dürfen, treibt er bald wieder systematisch voran. Dass er dabei energisch Hilfe verlangt, bringt unerwartetes Leben in Lees katatonische Existenz.

Zugleich aber werden jetzt, in einem sorgsamen Plan der Enthüllung, dem Rückblenden-Puzzle der Vergangenheit immer weitere Teile hinzugefügt: Lee als eine Art charmanter Schluffi mit seiner Ex-Frau Randi (Michelle Williams), die auch immer noch in der Gegend lebt; Lee als liebender, leicht chaotischer Vater. Was hat ihn nur so verändert, fragt man sich, und wo ist seine Vergangenheit geblieben?

Filme, die sich so viel trauen wie dieser, sind leider selten geworden

Die Antwort kommt, unaufhaltsam genug, und sie kann hier nur angedeutet werden als ein Gefühl: Ein Moment in der Nacht, in dem ein Mann zum Zuschauer seines eigenen Schicksals wird. Ohne dass er noch die Kraft hätte, in die erste Reihe vorzutreten, und ohne dass die Wahrheit dessen, was er da mitansehen muss, noch ganz zu ihm durchdringen kann. Er steht einfach nur da, die Schultern hochgezogen, die Hände in den Taschen seiner Jacke vergraben, und es ist dann die durchgehende Signatur von Casey Afflecks Performance, dass die Hände aus diesen Taschen eigentlich nie wieder herauskommen werden.

Kenneth Lonergan möchte diesem Lee Chandler begegnen, wie auch manche Frauen in "Manchester by the Sea" ihm begegnen wollen, angezogen von seinem dunklen Magnetismus. Er möchte dann aber nicht erschrocken und erschüttert zurückzucken. Er möchte in eine Seele schauen, in der nichts mehr ist. Ohne ein Verstehen, das nur behauptet wäre, und ohne eine Hoffnung, die es nicht gibt. Die Momente sind selten, in denen das Kino solchen Mut beweist.

Manchester by the Sea, USA 2016 - Buch und Regie: Kenneth Lonergan. Kamera: Jody Lee Lipes. Musik: Lesley Barber. Mit Casey Affleck, Lucas Hedges, Michelle Williams. Universal, 138 Minuten.

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Quelle:
SZ vom 18.01.2017
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