Todesfall:Holocaust-Überlebender Guy Stern mit 101 gestorben

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Der Holocaust-Überlebende Guy Stern im Mai 2019 als Gast im niedersächsischen Landtag. (Foto: Christophe Gateau/dpa/Archivbild)

Als 15-Jähriger entkam der jüdische Junge aus Hildesheim den Nazis, konnte aber seine Familie nicht in die USA nachholen. Seine Geburtsstadt Hildesheim trauert um den unermüdlichen Streiter für Demokratie.

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Berlin/Hildesheim (dpa) - Der deutsch-amerikanische Literaturwissenschaftler und Holocaust-Überlebende Guy Stern ist im Alter von 101 Jahren gestorben. Das teilte der Berliner Aufbau-Verlag am Freitag mit. In dem Verlag erschien die Autobiografie des gebürtigen Hildesheimers („Wir sind nur noch wenige“) auf Deutsch anlässlich seines 100. Geburtstags am 14. Januar 2022. Als 15-Jähriger hatte Stern 1937 allein zu einem Onkel in die USA flüchten können, damals hieß er noch Günther. Seine Eltern und jüngeren Geschwister gehörten zu den knapp sechs Millionen von den Nationalsozialisten ermordeten Juden.

In den USA schloss sich Stern einer Spezialeinheit der US-Armee an, die in Europa von 1944 bis Kriegsende deutsche Kriegsgefangene verhörte. Nach dem Krieg studierte er Romanistik und Germanistik und lehrte anschließend an zahlreichen amerikanischen und deutschen Universitäten, wie der Verlag weiter mitteilte. Seit seiner Emeritierung 2002 war er Direktor des Instituts für Altruismusforschung am Holocaust-Museum in Detroit.

Stern, der am Donnerstag (7. Dezember) gestorben ist, war Mitbegründer der Lessing Society, Vize-Präsident der Kurt Weill Foundation for Music und Präsident des PEN Zentrums deutschsprachiger Autoren im Ausland.

Der Wissenschaftler erhielt zahlreiche Auszeichnungen, unter anderem das Große Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland, die Goethe-Medaille und die Ehrenbürgerschaft von Hildesheim. Er war mit der deutschen Schriftstellerin Susanna Piontek verheiratet und lebte im US-Bundesstaat Michigan.

Noch im hohen Alter hielt Stern Vorträge, oft vor jungen Menschen. 2019 sprach er im niedersächsischen Landtag. „Mit dem Tod von Guy Stern hat ein beeindruckendes und vielfältiges Leben sein Ende gefunden“, sagte Landtagspräsidentin Hanna Naber am Freitag. Sein unermüdliches Engagement für Aufklärung, für Verständigung und gegen Antisemitismus sei bewundernswert. Trotz schmerzhafter Erinnerungen habe Stern den Kontakt nach Deutschland intensiv gepflegt. „Seine bewegende Rede vor dem Plenum des Landtages wird vielen immer im Gedächtnis bleiben. Das Vermächtnis von Guy Stern wird fortbestehen“, betonte Naber.

In einem dpa-Interview sagte er im Februar 2022, die Errungenschaften der Demokratie dürften nicht leichtfertig aufs Spiel gesetzt werden. „Eine Demokratie ist ein zartes Pflänzchen, das jederzeit eingehen kann, wenn es nicht genügend gehegt wird“, sagte Stern der dpa. „Wir können derzeit gut beobachten, was sich weltweit abspielt in Ländern, in denen - oft demokratisch gewählt - „starke Männer“ ihren Machtradius immer mehr erweitern und die Freiheiten ihres Volkes immer mehr einschränken.“

In Hildesheim werden die Stadtflaggen nach dem Tod des Ehrenbürgers bis einschließlich Montag auf halbmast gehisst. Oberbürgermeister Ingo Meyer (parteilos) sagte: „Mit Guy Stern verlieren wir eine wirklich bemerkenswerte Persönlichkeit und einen äußerst liebenswürdigen Menschen.“ Er habe seine Gesprächspartner mit umfangreichem Wissen und Zugewandtheit in den Bann gezogen und dabei mit seinem feinen, geistreichen Humor überrascht und berührt.

An Sterns getötete Eltern und Geschwister erinnern seit Anfang 2022 Stolpersteine in Hildesheim. Die Messingtafeln mit den Namen der Ermordeten wurden in den Gehweg vor der letzten Adresse der Familie eingelassen. „Es ist eine sehr schöne Geste - spät kommt sie, doch sie kommt“, sagte Stern 2022 im dpa-Interview dazu. Er selbst habe nach seiner Rettung an „Überlebensschuld“ gelitten und sich gefragt: „Alle meine Liebsten tot - aber ich darf weiterleben. Warum? Warum ich? Es muss doch einen Sinn gehabt haben, dass ich davonkam.“ Er habe deshalb - zunächst unbewusst - versucht, in seinem beruflichen Leben besonders viel zu erreichen.

© dpa-infocom, dpa:231208-99-228233/3

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