Kurzkritiken zu den Kinostarts der Woche:Giraffenliebe in Zeiten des Elends

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Ziad (Ahmad Bayatra) macht sich Sorgen um ein Giraffenweibchen, weil es seit dem Tod seines Gefährten nicht mehr fressen will. (Foto: Zorro Filmverleih)

Im Märchen "Giraffada" hilft ein Junge einem Giraffenweibchen, einen neuen Gefährten zu finden. Und die Tragikomödie "Das Zimmermädchen Lynn" bietet Stoff für Voyeure - also für alle Kinoliebhaber. Welche neuen Filme sich lohnen - und welche nicht.

Von den SZ-Kinokritikern

Giraffada

Die Liebe zu den Tieren ist emotionaler Luxus, und in Palästina nicht gern gesehen: Ziad und sein Vater, der Tierarzt, sind in der Westbank Außenseiter, weil sie sich lieber um Giraffen kümmern als sich in der Moschee blicken zu lassen. Es ist die Zeit des Mauerbaus, die Palästinenser stecken fest in ihrem Ort - und nachdem bei einem Luftangriff das Giraffenmännchen ums Leben kommt, verweigert das trächtige Weibchen das Futter. Es bleibt nur ein Ausweg: Einen neuen Gefährten über die Grenze zu bringen, die die Menschen nicht passieren dürfen. Rührender, sehr poetischer Kinderfilm von Rani Massalha. Susan Vahabzadeh

Ein Junge namens Titli

Jenseits von Bollywood: die Geschichte eines Jungen, der "Schmetterling" heißt, aber in eine Familie von Autodieben hineingeboren wurde. Titli versucht, ihr zu entkommen, wird dabei seinen brutalen Brüder aber immer ähnlicher. Kanu Behl - er kommt vom Dokumentarfilm - zeichnet das Bild einer korrupten, gewalttätigen Gesellschaft, in der nur das Recht des Stärkeren zählt. Wuchtiger indischer Neorealismus ganz ohne Folklore. Martina Knoben

Kiss The Kook

Blockbuster-Regisseur Jon Favreau ("Iron-Man") erinnert sich an seine Indie-Anfänge und serviert gerade so, wie er das knusprige Cubano-Sandwich zubereitet, liebevoll und zum Reinbeißen, die Story vom Gourmet-Chefkoch, der im Kampf gegen den sturen Restaurantboss (Dustin Hofmann) zu seinen Wurzeln zurückfindet. Das heißt zurück zur feurigen Leidenschaft, der alles entspringen muss: Kochkunst, Liebe, Freundschaft. Rainer Gansera

Lost River

Spätestens seit "Drive" weiß man, dass Hollywoods Premium-Herzensbrecher Ryan Gosling gern in somnambulen Trancewelten unterwegs ist. Das gilt nun auch für seinem ersten Film als Regisseur, einen Albtraum vom verlorenen Optimismus der USA. Eine verfluchte Ruinenstadt, halb in einem Staussee versunken, eine Mutter (Christina Hendricks) mit zwei Söhnen, die ums Überleben kämpft und in einem finsteren Nachtclub landet... Damit reicht Gosling reicht zwar nicht an große Wachträumer wie David Lynch heran. Aber er zeigt ganz eigenen, eigensinnigen Stilwillen. Tobias Kniebe

Die Maisinsel

Ein Haus bauen, ein Feld anlegen. Ein alter Mann hat das Sagen, ein junges Mädchen wird zur Frau. George Ovashvili spiegelt die große Welt in einer kleinen, sein Film ist auf einer der Inseln angesiedelt, die sich jedes Jahr im Fluss Enguri bilden, wenn von den Bergen des Kaukasus fruchtbarer Boden ins Tal gewemmt wird. Bauern beackern sie, bevor sie nach heftigen Regenfällen wieder im Fluss verschwinden - der Kreislauf des Lebens. Ein Film mit wunderschönen epischen Bildern, der seine biblisch anmutende Geschichte klug in der Gegenwart mit ihren poltischen Konflikten verankert. Martina Knoben

Poltergeist

Endlich ein Remake von einem Horrorklassiker, das nicht hauptsächlich toller sein will als das Original, sondern sich lieber Mühe gibt, die Gegenwart einzubeziehen - Technologie, Popkultur, dazwischen womöglich Humor. Man erfährt also von Regisseur Gil Kenan, dass es noch immer gefährlich ist, auf ehemaligen Friedhöfen zu wohnen, aber man lernt außerdem, dass Geister inzwischen mittels Handy kommunizieren und Drohnen notfalls ins Jenseits fliegen. Doris Kuhn

San Andreas

Ein Katastrophenfilm von der Westküste. Er startet ganz solide, mit dem Hoover Damm, der innerhalb weniger Sekunden zerlegt wird von den Computertrickspezialisten des Warner Studios, dann zieht das Erdbeben die Küste entlang, die Golden Gate muss allerdings noch eine Zeitlang warten, bis sie dran ist.Eine ganz reale Gefahr - der Andreas-Graben bedeutet höchstes Risiko für LA und San Francisco -, um die herum der Film von Brad Peyton wie am Reißbrett konstruiert ist. Ein Superfamilienvater - natürlich Dwayne Johnson - gondelt im Hubschrauber durch die unermüdliche Zerstörung, um seine Familie zusammen zu holen und zu retten. Fritz Göttler

Tracers

Wie Äffchen turnen die Parcoursläufer durch den Großstadtdschungel, ganz New York machen sie zu ihrem Spielplatz. In halsbrecherischen Heists stellen sie ihre Akrobatik in den Dienst des Verbrechens, was in der Choreografie des Stunt-Coordinators Gary Powell, (bereits verantwortlich für den furiosen Bond-Antrittssprint von Daniel Craig in Casino Royale), ein einziger Bewegungsrausch ist. Doch unter der Regie von Daniel Benmayor und mit Serienstars wie Taylor Lautner (Twilight) und Adam Rayner (The Walking Dead) kann die holprige Dramaturgie hinter der fließend schwerelosen Wendigkeit der Läufer nur hoffnungslos hinterherhinken. Anke Sterneborg

Von Caligari zu Hitler

Wie foltert man zwei Stunden lang eine kinouninteressierte Schulklasse? Mit diesem Film über das Weimarer Kino, betitelt nach Kracauers Buch. Man kann davon ausgehen, dass Rüdiger Suchsland in seinem Kommentar von allem, was er sagt, mindestens einmal das Gegenteil behauptet: Alles ist reine Wirklichkeit und reiner Eskapismus, reine Autoritätssehnsucht und reine Freiheit: reines Blablabla. Philipp Stadelmaier

Das Zimmermädchen Lynn

Unter den Betten des Hotel Eden liegt nachts heimlich: das Zimmermädchen Lynn. Und lauscht. Und guckt durch den Spalt zwischen Boden und Bettunterkante. Sockenpaare, die umhertapsen. Höschen, die zu Boden gleiten. Nur wie soll sie Kontakt aufnehmen mit dieser mysteriösen Menschenwelt da oben? Eine wunderbare kleine Tragikomödie von Ingo Haeb für alle passionierten Voyeure - also für alle Kinoliebhaber. David Steinitz

Ein Papagei im Eiscafé

Immer wieder erstaunlich, wie tief Menschen unter bauschigen Rasierschaumbergen und Trockenhauben in ihre Seele blicken lassen. Ines Thomsens Dokumentarfilm erzählt mit respektvollem Abstand und aufrichtiger Sympathie für seine Protagonisten die Mär vom modern europe an einem Nebenschauplatz weiter: Friseursalons in Barcelonas Migrantenviertel El Raval - ein Ort wie eine Parallelgesellschaft, in der Einwanderer ihr Glück suchen, während krisengeschüttete Spanier ins Ausland fliehen. Annett Scheffel

Anmerkung der Redaktion: "Ein Papagei im Eiscafé" läuft in deutschen Kinos nur den in folgenden acht Städten: http://www.filmtankaudience.de/p/ein-papagei-im-eiscafe/

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