Blauer Reiter im Lenbachhaus:Murnau liegt bei Mexiko

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Das Münchner Lenbachhaus hat seine Sammlung erforscht. Die Neu-Hängung "Gruppendynamik" zeigt die Maler des Blauen Reiters als internationale Avantgarde.

Von Evelyn Vogel

Wie umfassend das Konzept des Münchner Lenbachhauses tatsächlich ist, wird man vollständig erst im Herbst wissen. Dann nämlich, wenn auch der zweite Teil der "Gruppendynamik" mit dem Schwerpunkt "Kollektive der Moderne" zu sehen sein wird. Im direkten Vergleich mit anderen Künstlerkollektiven soll sich zeigen, wie zukunftsweisend die zu Beginn des 20. Jahrhunderts formulierten Ideen des Blauen Reiters waren. Doch jetzt schon zeichnet sich ab: Das Lenbachhaus hat für dieses Projekt tief gegraben - in der eigenen wie in anderen Sammlungen.

Die Doppelausstellung bildet den Abschluss der über vier Jahre von der Kulturstiftung des Bundes geförderten Reihe "Museum Global", bei der Museen in Deutschland ihre Sammlungen im Kontext außereuropäischer Kunstproduktion beleuchteten. Den Anfang hatte im November 2017 das Museum für moderne Kunst Frankfurt gemacht, das seine Werke zusammen mit lateinamerikanischer Kunst "A Tale of Two Worlds" erzählen ließ. Es folgte die Berliner Nationalgalerie, die sich mit der Ausstellung "Hello World" der Frage stellte, wie die eigene Sammlung heute aussehen würde, hätte ein global orientiertes Kunstverständnis ihren Aufbau geprägt. Die Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen schließlich kontrastierte in der Ausstellung "Mikrogeschichten einer ex-zentrischen Moderne" ihre westlich geprägte Sammlung mit Kunstwerken aus den Ländern Süd- und Mittelamerikas, Asiens und Afrikas. Und nun also ist das Münchner Lenbachhaus mit seiner zweiteiligen "Gruppendynamik"-Schau dran.

Im ersten Teil konzentriert man sich auf die umfangreiche eigene Sammlung des Blauen Reiters, um zu belegen, dass die Gruppe die einst von Wassily Kandinsky und Franz Marc in ihrem "Almanach" postulierte Grenzenlosigkeit und Wertschätzung "aller Völker und Zeiten" in ein gattungsüberschreitendes Kunstschaffen übersetzte. Der gesamte zweite Stock des Museums wurde für die Dauer von zwei Jahren umgestaltet. Mehr als 600 Objekte werden gezeigt - wegen der Lichtempfindlichkeit zum Teil im Wechsel.

Ein Ausstellungsstrang folgt der Entstehung des Blauen Reiters von der künstlerischen Orientierung in Murnau und Sindelsdorf über die Neue Künstlervereinigung München bis hin zu den beiden ersten Ausstellungen unter dem Namen "Blauer Reiter". Gezeigt werden frühe Werke von Kandinsky, Münter, Werefkin, Macke, Campendonk und Jawlensky, Arbeiten von ehemaligen Mitstreitern der Künstlervereinigung, natürlich auch Ikonen der Sammlung des Blauen Reiters von Kandinsky und Marc neben Werken von Macke und Klee, aber auch von Elisabeth Epstein, Maria Franck-Marc und Alfred Kubin, sowie Leihgaben von Delaunay aus dem Guggenheim oder Rousseau aus dem Centre Georges Pompidou, die damals ebenfalls Teil der Präsentationen waren.

Die Ausstellungsarchitektur imitiert sogar Münters "Herrgottswinkel"

Der andere Erzählstrang ist der ungleich spannendere. Beginnend mit dem Almanach, dessen aufwendiger Nachdruck in einer Auflage von 1000 Exemplaren vor einiger Zeit erschienen ist, zeichnet er die Verbindungen zwischen bayerischer und russischer Volkskunst, japanischen Holzschnitten, Kinderzeichnungen, zeitgenössischer Musik sowie den im Almanach abgebildeten Werken aus Bali, Gabun, Ozeanien, Sri Lanka, Mexiko und Ägypten nach. Dabei wird rückblickend deutlich, wie stark die Gruppe trotz ihrer internationalen Herkunft in der kolonialen Weltordnung gefangen war.

Die Kenntnis der Almanach-Redakteure Kandinsky und Marc über die nicht europäischen Werke waren offensichtlich gering. Manche kannten sie aus eigener Anschauung aus den Völkerkundemuseen, andere wohl nur von Abbildungen. Völlig naiv setzten sie sich über deren Herkunft, Geschichte und Funktionen hinweg. Nach Bedarf und Belieben wurden Objekte aus ihren Kontexten gelöst, um die intuitiv hergestellten Zusammenhänge zu belegen. Die Ausstellung zeigt nun einige der im Almanach abgebildeten Werke vor den Bildern.

Gemälde wie Andreas Jawlensky "Rote Blumen auf rosa Tisch" (1910) erscheinen im Kontext von Kinderkunst radikaler und stärker. (Foto: Städtische Galerie im Lenbachhaus und Kunstbau München/VG Bild-Kunst, Bonn 2021)

Was aber insgesamt deutlich wird: trotz ihrer eurozentrischen Prägung sog die Künstlergruppe vielfältige Einflüsse auf und ging auf nicht hierarchische Weise mit der Kunst um. Besonders deutlich wird das bei der bayerischen und russischen Volkskunst, den japanischen Holzschnitten und den Kinderzeichnungen. Sie wurden umfänglich gesammelt und als Kunst ernst genommen, und nicht selten dienten sie als Inspirationsquelle für eigene Arbeiten. Die Ausstellungsarchitektur folgt dem in Farbe und Form, wenn sie den sogenannten "Herrgottswinkel" imitiert, wie ihn Gabriele Münter in ihren Bildern festhielt. Das alles führt tief in die Gedankenwelt der Gruppe des Blauen Reiters hinein, die mit ihrem spirituellen Ansatz über "das Geistige in der Kunst" zu jener Zeit eine Ausnahmeerscheinung war. Es wird spannend sein zu sehen, wie der Blaue Reiter bei der Ausstellung im Herbst im Kontext weltweit agierender Künstlergruppen der Moderne abschneiden wird.

Gruppendynamik - Der Blaue Reiter, Lenbachhaus München, bis März 2023.

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