Klassik im Stream:Virtueller Cello-Abend für 25 Dollar

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Im virtuellen Konzertsaal des Streamingdienstes Dreamstage, gegründet vom Cellisten Jan Vogler, gibt es jeden Auftritt nur einmal. In Echtzeit. (Foto: Dreamstage)

Streaming-Plattformen entwickeln Bezahlmodelle für klassische Konzerte. Und die sollen mehr bieten als die für die Corona-Krise typische Wohnzimmerästhetik.

Von Michael Stallknecht

Es ist ein malerischer Ort hoch über einer Steilküste an der Côte d'Azur, an dem der Tenor Roberto Alagna und seine Ehefrau, die Sopranistin Aleksandra Kurzak, am vergangenen Sonntagabend aufgetreten sind. Kameraschwenks über das Meer haben Sehnsucht nach momentan schwer erreichbarer Ferne geweckt. Eher sentimental wirkt auch die Programmwahl, ein wahlloses Best-of aus italienischen und französischen Opern zur etwas mageren Begleitung eines Streichquintetts. All das soll möglichst viele zahlungswillige Kunden locken. Zwanzig Dollar kostet der Eintritt über die Homepage von "Met Stars Live in Concert", mit dem Amerikas wichtigstes Opernhaus, die New Yorker Metropolitan Opera, seit Mitte Juli seine prominentesten Künstler ins Rennen um digitale Aufmerksamkeit schickt.

Ziel des neuen Formats sei, sagt Met-Intendant Peter Gelb im Gespräch über Zoom, "klassische Musik einem breiteren Publikum zugänglich zu machen". In diesen Zeiten sei das Wichtigste, Künstler und Publikum miteinander in Kontakt zu halten, da beide momentan nicht reisen könnten. Auf absehbare Zeit wird die Met kaum live spielen können. Gelb gibt offen zu, dass er an den bislang angekündigten Wiedereröffnungstermin am 31. Dezember längst nicht mehr glaubt.

Die Opernvideos der New Yorker Met haben täglich bis zu 80 000 Besucher

Der virtuelle Ersatz aber scheint zu funktionieren: Mehr als 40 000 Besucher lösten ein Ticket für das erste Konzert von "Met Stars live in Concert", bei dem Jonas Kaufmann aus dem Bibliothekssaal im oberbayerischen Polling Arien mit Klavierbegleitung in die Welt hinaus schmetterte. Alagna und Kurzak haben live immerhin 10 000 zahlende Kunden erreicht. In den zwölf Tagen, in denen das Konzert online bleibt, werden es nach Schätzungen der Met nochmal so viele werden.

Das Streaming klassischer Konzerte ist oft totgesagt worden in den vergangenen Monaten, mit vielen berechtigten und manchen ziemlich naserümpfenden Argumenten. Denn die Zeit der Schließung von Opernhäusern und Konzertsälen hat auch bewiesen, dass es dafür durchaus ein Zielpublikum gibt. So erreichte die Met zu Beginn der Krise mit kostenlosen Opernvideos bis zu 200 000 Zuschauer pro Tag, derzeit seien es immerhin noch 70 000 bis 80 000, sagt Peter Gelb. Nur konnten weder die Institutionen noch die Künstler damit Geld verdienen. Zwar gibt es schon lange Bezahlplattformen wie "Fidelio", die "Digital Concert Hall" der Berliner Philharmoniker oder eben "Met on Demand", doch hier müssen Nutzer ein Abonnement abschließen. Einzelne Konzerte ließen sich im Internet dagegen bislang nur schwer monetarisieren. Das Internet ist zu unübersichtlich, als dass einzelne Musiker hier nennenswerte Aufmerksamkeitsressourcen für sich bündeln könnten. Daneben verfügen die wenigsten über das Equipment, um für eine ordentliche Klangqualität zu sorgen. Und danach mal eben so den Hut rumgehen lassen kann man im Netz auch nicht.

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Genau in diese Lücke stoßen nun einige neue Initiativen, die Streamingkonzerte in einem Pay-per-View-Modell zugänglich, also wie beim Livebesuch einzeln bezahlbar machen. So strahlt das Plattenlabel Deutsche Grammophon seit Juni vorproduzierte Einzelkonzerte mit seinen Künstlern über seine "DG Stage" aus, für die man Karten lösen kann. Das Audiostreamingportal Idagio hat seinem Portfolio eine visuelle "Global Concert Hall" mit Livekonzerten hinzugefügt, für die man kein Abonnement bei Idagio braucht. Er habe kostenlose Streams "von Anfang an für eine Entwertung künstlerischer Arbeit gehalten", sagt Idagio-Chef Till Janczukowicz. Mit den Zuschauerzahlen "im drei- bis vierstelligen Bereich" sei man "sehr, sehr zufrieden".

Am kommenden Samstag wird mit "Dreamstage" ein neues Portal hinzukommen, das seinen Fokus auf die Klassik richten wird, aber für alle Musiker aller Genres offen ist. Gegründet hat es der in Dresden und New York lebende Cellist Jan Vogler, der für Klassikverhältnisse ein ungewöhnlich moderner Kopf ist, kosmopolitisch und technikaffin. Für die "Dreamstage" hat er sich mit dem Digitalexperten Thomas Hesse und dem Start-up-Spezialisten Scott Chasin zusammengeschlossen, um Musikern über diese schwierige Zeit hinwegzuhelfen. "Viele Musiker in Amerika werden den Winter nicht überleben", sagt Vogler, es bestehe die Gefahr, "dass die klassische Musik aus manchen Regionen der Welt verschwindet". Um zu Beginn die nötige Aufmerksamkeit zu generieren, braucht auch er bekannte Gesichter. Das Eröffnungskonzert, hörbar für 25 Dollar, wird er mit der Pianistin Hélène Grimaud bestreiten, die sich bislang dem Streaming verweigert und deshalb seit März kein einziges Konzert gespielt hat. In etwa zwei Monaten will Vogler seine Plattform dann für alle Musiker öffnen, die hier für Geld Konzerte spielen und vorab bei ihren Followern in den sozialen Netzwerken bewerben können. Vogler hofft, dass man auf diese Weise "das eine oder andere große Talent entdecken" werde. Achtzig Prozent der Einnahmen gehen direkt an die Künstler. Auch Idagio hält das so, bei der Met werden die Stars für ihre Auftritte ohnehin normal bezahlt. Für viele Musiker ist Streaming momentan schlicht alternativlos, so defizitär es auf manchen Hardcore-Klassik-Fan wirken mag.

Die Branche hat sich aufs Überwintern in der Corona-Krise eingestellt

Was den Liveauftritt am stärksten von der Bild- und Tonkonserve unterscheidet, ist das Hier und Jetzt der gemeinsamen Hörerfahrung. Wo das Hier, also der von Musikern und Publikum geteilte Raum, wegfällt, setzen die Macher in den neuen Formaten vor allem darauf, das Jetzt des erlebten Augenblicks zu erhalten. Bei Idagio bleiben die Konzerte deshalb nur 24 Stunden online, bei "Dreamstage" wird man den Auftritt tatsächlich nur in Echtzeit verfolgen können. Man spiele einfach völlig anders, wenn es nur diese eine Möglichkeit gebe, sagt Jan Vogler, wenn man sich "im Moment das Hemd aufreißen" müsse. Sein dezidiertes Ziel ist es, "die reale Welt möglichst zu duplizieren". Dafür kommen optisch mehrere virtuelle Konzertsäle zum Einsatz, die sich der Hörer mit anderen Avataren teilt. Die Ästhetik, entworfen vom Grafikdesigner Max Dalton, gibt sich bewusst nostalgisch. Ebenso soll die Tonqualität dem Hören im Konzertsaal möglichst nahe kommen, wozu ein professioneller Streamingprovider integriert wird - wie bei Sportübertragungen. Auch die New Yorker Met spielt ihre Konzerte in HD-Qualität aus, die Bild- und Tonregie erfolgt via Satellitenübertragung aus New York. Die Koordination sei "ziemlich herausfordernd", sagt Met-Intendant Peter Gelb - und entsprechend teuer, wofür Sponsoren bereitstehen.

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Aus der Kritik am Streaming scheint man also gelernt zu haben. Die für den Beginn der Corona-Krise typische Wohnzimmerästhetik soll jedenfalls überwunden werden. Als zentralen Übertragungsort haben die neuen Anbieter auch nicht mehr den Monitor des PCs im Auge, sondern moderne Home Entertainment Systeme. Die zusätzlichen Dimensionen des Internets will man sich dennoch nicht entgehen lassen. Chat- und Kommentarfunktionen ermöglichen den Hörern den Austausch untereinander oder mit den Künstlern - sofern die das wollen. Moderierte Pre- und After-Concert-Talks sollen für zusätzliche Nähe sorgen. Das Streamingkonzert bewegt sich so in einer ständigen Dialektik aus Nähe und Ferne: aus dem besonderen Ort an der Côte d'Azur und globaler Sichtbarkeit, aus dem simulierten Kennenlernen der Künstler und seiner auratischen Abgehobenheit während des Auftritts.

Ob der Spagat gelingt, muss man sehen. Die zunehmende Professionalisierung zeigt auf jeden Fall, dass die Branche sich aufs Überwintern in der wohl noch länger anhaltenden Corona-Krise eingestellt hat. Und natürlich hoffen alle, auf diese Weise ein neues Zielpublikum für die Klassik zu gewinnen, das vielleicht auch andere ästhetische Erwartungen mitbringt als die Hardcore-Fans. "Die neuen Formate werden bleiben", ist Idagio-Chef Till Janczukowicz überzeugt. Er sieht für die Zukunft auch die Möglichkeit von Hybridmodellen, bei denen einige Zuschauer ein Konzert im Saal verfolgen können und deutlich mehr gleichzeitig im Stream. "Es ist der Versuch, mit dem Livekonzert im 21. Jahrhundert anzukommen", sagt Jan Vogler.

© SZ vom 20.08.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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