John Cranko Schule in Stuttgart:Raumschiff 21

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Neue Talente: Ballettschüler proben in einem der acht Trainingssäle der neuen John-Cranko-Schule in Stuttgart. (Foto: Roman Novitzky)

Spektakulärer Bau, runder Geburtstag: Die John-Cranko-Schule in Stuttgart setzt Maßstäbe, nicht nur im Tanz.

Von Dorion Weickmann

Er spricht nur hin und wieder, leise und konzentriert. Die Kollegin an seiner Seite hält es dagegen kaum auf dem Stuhl. Ihr Bein wippt mit, wenn Josef Haydns "Schöpfung" durch die Luft streicht, bis die Musik zuletzt das Paar in der Mitte des Saals erfasst und seine Körper in Schwingung versetzt. Während die Welt auf einmal stillsteht, wie betäubt von der Hingabe der Tänzer aneinander und an ihre Kunst. Alicia McArthur ist siebzehn Jahre alt, Mitchell Millhollin ein Jahr jünger. Sie kommt aus Neuseeland, er aus den USA. Beider Wege kreuzen sich hier, in einem der acht Trainingssäle, die der Neubau der Stuttgarter John-Cranko-Schule beherbergt. Schuldirektor Tadeusz Matacz und Ex-Ballerina Maria Eichwald sind ihre Tutoren bei der Einstudierung des elegischen Pas de deux aus Uwe Scholz' Choreografie "Die Schöpfung" - deren Urheber ebenfalls ein Cranko-Zögling war. Was bedeutet: Wie nirgends sonst wird in Stuttgart lebendige Tradition vererbt, und das seit nunmehr 50 Jahren. Und neuerdings in preisgekrönter Architektur.

Wie verhält sich dieses extravagante High-Tech-Gehäuse zu seinem Daseinszweck, der Ausbildung exzellenter Nachwuchstänzer?

Wer auf der XXL-Baustelle namens Stuttgart 21 von der Gleisanlage Richtung Bahnhofshalle läuft und den Blick über die Wände des Talkessels schweifen lässt, der entdeckt hinter der Staatsgalerie ein fast schneeweißes treppenartiges Gebilde. Zwischen Urbansplatz und Werastraße zieht sich der Baukörper in fünf Stufen den Hang hinauf. Große Fensterfronten gliedern seine Fassaden, begrünte Flachdächer krönen ihn.

Der Neubau der Ballettschule zieht sich in fünf Stufen den Stuttgarter Hang hinauf. (Foto: Roman Novitzky)

Gerade erst hat der markante, vom Münchner Büro Burger Rudacs Architekten entworfene Bau zwei Auszeichnungen erhalten: den Hugo-Häring-Landespreis und den IWS Immobilien Award in der Kategorie "Sondernutzung". Weil, wie es in der Begründung heißt, "eine Skulptur mit einer energetisch optimierten Gebäudehülle aus feinstem zweischaligem Sichtbeton und einem innovativen Technikkonzept" entstanden ist. Alles wahr, bleibt nur die Frage: Wie verhält sich dieses extravagante High-Tech-Gehäuse zu seinem Daseinszweck, der Ausbildung exzellenter Nachwuchstänzer?

Während die Konkurrenz in Wien, Lausanne oder Berlin unter #MeToo-Verdacht geriet, gilt Stuttgart als Vorzeige-Institut

Schulleiter Tadeusz Matacz amtiert seit 1999 und hat die Akademie erfolgreich und ohne jeden Skandalgeruch im internationalen Wettbewerb positioniert. Während die Konkurrenz in Wien, Lausanne oder Berlin unter #MeToo-Verdacht geriet, gilt Stuttgart als Vorzeige-Institut, das Ausnahmetalente in Serie hervorbringt. Die Qualität spiegelt sich auch im Gala-Programm zum fünfzigjährigen Bestehen der Schule, das am 1. Dezember über die Bühne des Opernhauses gehen soll: Tänzer der Mutterkompanie, einst selbst Eleven der Cranko-Schule, treten gemeinsam mit den heutigen Junioren auf. Auch die Choreografien stammen teilweise von ehemaligen Absolventen, die heute zu den Top-Tanzdesignern Europas zählen. Am Anfang dieser Genealogie stehen ein genialischer Kopf und eine Handvoll Tänzer, die seinen Ruhm und Nachruhm gemehrt und in alle Welt getragen haben.

Der in London ausgebildete Südafrikaner John Cranko stieß 1961 das legendäre Stuttgarter Ballettwunder an. (Foto: Hannes Kilian)

1961 stieß John Cranko das legendäre Stuttgarter Ballettwunder an, später assistiert von seinen Vertrauten, allen voran den Tänzern Marcia Haydée, Birgit Keil, Richard Cragun, Egon Madsen. Der in London ausgebildete Südafrikaner renovierte und revitalisierte das Ballett, er schuf moderne Klassiker wie "Onegin" oder "Der Widerspenstigen Zähmung" und machte die Stadt am Neckar zum Hotspot des Tanzes - inklusive Gründung der Schule, die 1971 in den Räumen einer ehemaligen Druckerei loslegte. Zwei Jahre später verstarb der Choreograf auf einem Transatlantikflug und hinterließ, ähnlich wie später Pina Bausch in Wuppertal, eine verwaiste Kompanie. Die sich jedoch zu helfen wusste: Nach einem Interim übernahm Marcia Haydée die Direktion, stabilisierte das Ensemble und festigte dank kluger Repertoirepolitik auch sein Renommee.

Der Schuldirektor Tadeusz Matacz avancierte in den vergangenen Jahren auch zum Oberbauleiter. (Foto: Roman Novitzky/Roman Novitzky)

Ihr Nachfolger Reid Anderson war es, der den Neubau der Schule seit 2011 vorantrieb - im Schulterschluss mit Tadeusz Matacz, der nebenbei gleichsam zum Oberbauleiter avancierte: Wie viele Steckdosen braucht man, welche Böden, wie hoch müssen die Spiegel sein, wie groß die Bühne? Hunderte solcher Fragen musste der Schuldirektor im Lauf der Bauzeit abarbeiten. Mit dem Ergebnis ist er sichtlich zufrieden: Endlich haben seine gut hundert Schützlinge Platz genug und eine Infrastruktur, die von der Mensa über die Mediathek bis zum Gym das Beste vom Besten bietet.

In der Tat gleicht der Gang durch die John-Cranko-Schule einer Exkursion in extraterrestrische Gefilde: ein cooler, fast raumschiffartiger Look prägt das Gebäude vom Empfang auf Höhe der Werastraße bis hinunter ins Sockelgeschoss, wo die geräumige Bühne mit 199 Plätzen auch dem Stuttgarter Ballett als Nebenspielstätte dient. Das Interieur ist flächendeckend in edlen Weiß-, Schwarz- und Grautönen gehalten, umso belebender ist der Blick ins Freie auf ein paar Gemüsekisten, in denen Tomaten und Gurken dem Winter entgegenschrumpeln. Spektakulär sind die Stadtimpressionen, fällt doch an jeder Ecke ein anderer Ausschnitt des Stuttgarter Weichbilds durch großzügig verglaste Sichtfelder und erinnert die Bewohner der Ballett-Enklave an die urbane Landschaft da draußen. Beim Wandschmuck haben die Architekten ein striktes Veto eingelegt, nichts darf an die kühlen Mauern aus Sichtbeton, was den Verdacht puristischer Prinzipienreiterei erweckt. So heilig kann auch ein 60 Millionen teurer Betonkoloss nicht sein, dass seine Haut nicht hier und da ein wenig gekitzelt werden darf. Aber was soll's - dafür liegen vor den Sälen Trainingsröcke und Alltagsklamotten in schönsten Villa-Kunterbunt-Assemblagen, geradezu installationsartig arrangiert.

Das Ballett beginnt als streng formales Exerzitium, bevor es zur Kunst wird - angehende Tänzerinnen beim Training. (Foto: Roman Novitzky)

Auf seltsame Weise passt die lineare Optik zum Gegenstand, den sie rahmt: Das Ballett beginnt als streng formales Exerzitium, bevor es zur Kunst wird. Bevor seine Form in Schwingung gerät und Kräfte freisetzt, die das Publikum immer wieder aufs Neue verführen und bezaubern. Alicia McArthur und Mitchell Millhollin besitzen, soviel deutet sich an diesem Novembertag schon an, den Schlüssel zu dieser Magie. Vielleicht entfaltet sie sich am besten in einer Kulisse, die sich scheinbar zurücknimmt und hinterrücks mit ästhetischer Eleganz auftrumpft. Insofern setzt die John-Cranko-Schule Maßstäbe. Vermutlich mindestens für die nächsten fünfzig Jahre.

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