Sachbuch: "#IchBinHanna: Prekäre Wissenschaft in Deutschland":Eigentlich idiotisch

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Hoffnungsvolle Forschung: hier in der Universitätsbibliothek der Berliner Humboldt-Universität. (Foto: imago)

Die Initiatoren von "#IchBinHanna" erklären in einem so präzisen wie polemischen Buch, was eine wissenschaftliche Laufbahn in Deutschland so schwierig macht. Unnötig schwierig.

Von Johan Schloemann

Das war der deutsche Professor: Ordinarienherrlichkeit, Alleinherrschaft im Kleinfürstentum des Instituts. Dieses Bild hat sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten gründlich geändert. Der deutsche Professor ist kooperativer geworden, im Habitus angestelltenmäßiger, er trägt selten Schlips und lässt sich duzen, und endlich ist er, ist sie auch immer öfter eine Professorin. Eines gilt aber nach wie vor: Die Organisation von Forschung und Lehre an den Universitäten ist immer noch sehr stark - viel zu stark - ausgerichtet auf die Unterscheidung von Professuren und Nichtprofessuren.

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Wer bis ins Alter von Mitte vierzig keine Professur ergattert, aber bis dahin allerlei Qualifikationen dafür angesammelt hat, bleibt hierzulande an der Universität Privatdozent, mit mickrig bezahlten Lehraufträgen, aber ohne feste Beamtenstelle. Oder muss sonst schauen, wo er oder sie bleibt. Das hat es zwar immer schon gegeben. Aber seitdem die deutsche Universität zur Massenuniversität ausgebaut wurde - also schon recht lange -, ist es ziemlich idiotisch, keine anderen Dauerstellen als die Professuren einzurichten für diejenigen, für deren wissenschaftliche Laufbahn der Staat bis dahin schon viel Steuergeld ausgegeben hat. Ob man sie jetzt "Lecturer" nennt oder sonst wie.

Vom wissenschaftlichen Personal in Deutschland haben 92 Prozent von denen, die unter 45 sind und keine Professur haben, nur Zeitverträge

Die "jungen" Forschenden arbeiten nämlich nach ihrer Doktorarbeit und Promotion - immer öfter erst im vierten Lebensjahrzehnt - einerseits an ihrer weiteren Qualifikation, also an neuen Thesen und Ergebnissen, an Büchern und Papers; andererseits werden sie ohne sichere Anstellung unter dem Deckmantel der Projektemacherei dafür verbraten, den Dauerbetrieb der Wissenschaft aufrechtzuerhalten: Kurse unterrichten, Tagungen organisieren, Computerprobleme lösen und nicht zuletzt: riesige Konvolute an Forschungsanträgen ausarbeiten, also großartig klingende Pläne für die Vorhaben der Zukunft, womit sie im Fall der Bewilligung wackelige Existenzen wie die ihrige für ein paar Jahre weiterfinanzieren. Vom wissenschaftlichen Personal in Deutschland haben laut jüngeren Erhebungen 92 Prozent von denen, die unter 45 sind und keine Professur haben, nur Zeitverträge.

Wie gesagt, das ist eigentlich idiotisch. Nicht nur für die Menschen, sondern auch für das System der Forschung. Doch lange sprach man als Kandidat oder auch als darüberschwebende Professorin nicht laut über die zähe Unsicherheit der Laufbahn - weil das ja viel zu peinlich war. Und weil man fürchtete, dass damit der Geruch der Erfolglosigkeit und Larmoyanz an der Kandidatin oder dem Kandidaten hängen bliebe. Man brennt ja doch angeblich für nichts anderes als für die Wissenschaft, komme, was wolle, und deswegen arbeitet man ohne Murren erst nachts nach Feierabend an der eigenen Habilitationsschrift, wenn alles andere fürs Projekt und fürs Institut getan ist. Bis zu viele Jahre damit vergangen sind.

Amrei Bahr, Kristin Eichhorn, Sebastian Kubon: #IchBinHanna: Prekäre Wissenschaft in Deutschland. Suhrkamp, Berlin 2022. 144 Seiten, 13 Euro. (Foto: N/A)

Dieses Schweigen ist spätestens seit der Twitter-Bewegung unter dem Hashtag #IchBinHanna gebrochen, die im Juni des vergangenen Jahres losging. "Niemals Feierabend. Jede ,freie' Minute über die nächsten Bewerbungen & Anträge nachdenken, um die eigene Existenz zu sichern", schrieb da etwa eine Forscherin in einem von mehr als 134 000 Tweets von Akademikern, die sich mit der Aktion solidarisierten oder ihr eigenes Schicksal zwischen Lauern und Herumschleimen offenlegten.

Die Initiatoren von #IchBinHanna, Amrei Bahr, Kristin Eichhorn und Sebastian Kubon, haben die Argumente der Debatte in einem Buch gebündelt. Ausgelöst hatte den Aufschrei der Betroffenen ein zynisches, mittlerweile offiziell gelöschtes Filmchen des Bundesministeriums für Bildung und Forschung, in dem eine fröhliche Erklärvideo-Hanna unbefangen dafür stand, "dass nicht eine Generation alle Stellen verstopft", sowie für die Ansicht, die unwürdigen Hängepartien der Postdocs erhöhten "die Innovationskraft" der deutschen Wissenschaft.

Das Autorentrio, selbst aus den Geisteswissenschaften und bislang ohne entfristete Stellen, geht die Sache mit einer beeindruckenden Mischung aus Präzision und Polemik an und identifiziert zwei Hauptgründe für die Misere: erstens die Befristung von Qualifikationsstellen auf insgesamt zwölf Jahre (zweimal sechs, vor und nach der Promotion) - temporäre Stellen, die aber für alle möglichen anderen Tätigkeiten missbraucht werden; und zweitens die Abhängigkeit von Drittmitteln, das bedeutet: Man muss mit gewaltigem Präsentationsaufwand ständig irgendwelche Spezial- und "Exzellenz"-Gelder herbeibetteln, die in der normalen Finanzierung der Hochschulen fehlen, aber nicht fehlen sollten.

Die Befristungen der Arbeitsverträge, die viele auch hochqualifizierte Forschende in Deutschland schlecht schlafen lassen, regelt seit 2007 das gefürchtete Wissenschaftszeitvertragsgesetz (WissZeitVG). Bahr, Eichhorn und Kubon betonen, dass das Übel nicht erst damit anfing, sondern das Gesetz "seinerseits einen ersten (wenngleich gescheiterten) Versuch darstellt, ein ausuferndes Befristungs(un)wesen wieder einigermaßen in den Griff zu bekommen".

Eine ganze Forschergenerationen wird dazu gezwungen, "sich ein ums andere Mal beim Beantragen von Mitteln zu verausgaben"

Als der Staat in den Siebzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts sehr viele neue Studienplätze schuf, aber nicht genug entsprechendes Personal einstellte, kam bei Funktionären die Ausrede auf, möglichst viele befristete Stellen sorgten für Dynamik und Bewegung. Dies schuf eine "Kultur des Misstrauens" gegenüber dem sogenannten Nachwuchs, schreiben die drei Autoren: "Sie kommt auch in der durch nichts gedeckten Unterstellung zum Ausdruck, unbefristete Posten würden die Betreffenden faul und unflexibel machen und nur Existenzangst führe zu Leistungsfähigkeit und innovativer Forschung. Warum dies für Professor*innen, die ja sogar auf Lebenszeit verbeamtet sind und nach dieser Logik besonders träge und faul sein müssten, nicht gelten soll, wird wohl ein für immer ungelöstes Rätsel bleiben."

Der Protest gegen das Wissenschaftszeitvertragsgesetz ist inzwischen so laut, dass im Koalitionsvertrag der Ampelparteien Besserung gelobt wird. Die Ergebnisse einer schon länger verzögerten Evaluation des Gesetzes sollen nach Auskunft des Ministeriums nun im Mai präsentiert werden. Mal sehen, was daraus wird.

Aber das "#IchBinHanna"-Buch macht auch deutlich, dass das Problem der deutschen Universität noch tiefer liegt und durch mehr Entfristungen von Stellen nicht sofort verschwände (wie der Streit um das Berliner Hochschulgesetz gezeigt hat): Es ist die freiwillige Unterwerfung unter einen vermeintlich fairen Wettbewerb und das Regime einer oft im Ungefähren bleibenden "Innovation", die ganze Forschergenerationen dazu zwingt, "sich ein ums andere Mal beim Beantragen von Mitteln zu verausgaben". Die breit ausgebaute, aber tatsächlich schlecht finanzierte Universität hat etwas sehr Fragwürdiges zu einer Hauptbeschäftigung gemacht: "ein absurdes Wettrennen gegen das Ablaufen der finanzierten Zeit".

Da kommt dann aber auch noch etwas hinzu, was Amrei Bahr, Kristin Eichhorn und Sebastian Kubon nicht erwähnen: Zu einer Abhängigkeit gehören immer zwei Parteien, auch wenn die Verbeamteten am längeren Hebel zu sitzen scheinen. Alle, die nach dem Studium mit der Wissenschaft liebäugeln, müssen wohl strenger als bisher prüfen, mit welchen Erwartungen an eine akademische Karriere sie selbst ins Rennen gehen.

Dass in Deutschland so unglaublich viel mehr Doktorarbeiten geschrieben werden als früher und als anderswo, das sollte nicht nur manche verlocken, sondern auch viele davon abschrecken, sich in eine übermäßig lange Qualifikationsphase auf befristeten Stellen überhaupt erst hineinziehen zu lassen. Damit verschiedene Lebenswege möglich sind, anstatt verbaut zu werden, muss die Entscheidung, in der Wissenschaft zu bleiben oder nicht, um einige Jahre früher fallen: in dem schwerfälligen hierarchischen System namens Universität, sicher. Aber auch bei den Einzelnen. Auf die Gefahr hin, dass das furchtbar paternalistisch klingt, und wohlwissend, dass vieles auch von ungerechten Zufällen abhängt, möchte man der Uni-Generation "Hanna" dennoch zurufen: Ja, es braucht mehr Dauerstellen. Aber lasst euch auch nicht ausbeuten.

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