Kolumne: Überlebenskunst:Ohnmächtig vor der Idylle

Lesezeit: 3 min

Alfred Hitchcocks Filmklassiker "Das Fenster zum Hof" erreicht beinahe Rentenalter - die Simulation einer Wunschtraum-Kulisse, vom Fenster aus betrachtet, ist aktuell wie nie.

Von Susan Vahabzadeh

Rosarot leuchtet das Abendlicht hinter den Häusern des Greenwich Village, "Das Fenster zum Hof" hat einfach die perfekte West-Ausrichtung. Es ist Sommer, die Blumen blühen, die Fenster sind auf, und manchmal kann der Fotograf Jeff (James Stewart) seine Nachbarn sogar hören: Den Musiker im Atelier, die Musik, die die Tänzerin gegenüber hört, während sie in Unterwäsche übt, die unerwünschten guten Ratschläge, die die Bildhauerin in den Nachbargarten hinüberschickt, das Paar, das wegen der Hitze auf der Feuertreppe übernachtet. Überall ist Leben - Streit, Zuneigung, Einsamkeit. "Das Fenster zum Hof" kam 1954 ins Kino und läutete die erfolgreichste Epoche in der Karriere des Regisseurs Alfred Hitchcock ein - und ohne diesen in surreales Licht getauchten Hinterhof in New York wäre das vielleicht nicht so gewesen.

L.B. Jeffries, genannt Jeff, der vielgereiste Fotograf, fühlt sich eingesperrt und ausgebremst, weil er sich ein Bein gebrochen hat und nun nicht um die Welt fahren kann und fotografieren. Von der Immobilität abgesehen hat er keinen Grund zur Klage, allein ist er jedenfalls nicht. Er hat eine Pflegerin, Stella (Thelma Ritter), und eine Geliebte, die ihn gern heiraten würde, und von der er sagt, sie sei zu schön und zu charmant für ihn - die mondäne Lisa Carol Fremont (Grace Kelly). Er will sich gar nicht auf sie einlassen, denn dann müsste er sein Leben ändern und in New York seßhaft werden. Er geht jedenfalls davon aus, dass sie niemals mit ihm in all die Krisengebiete der Erde fahren würde. Das süße Leben in Manhattan - das weiß er nicht so recht zu würdigen.

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Erst einmal hindern die beiden Frauen ihn bei seinem neuen Hobby, mit dem er sich die Zeit vertreibt, seit er im Rollstuhl sitzt. Von Berufs wegen beobachtet Jeff Menschen, und genau das tut er jetzt auch. Erst schaut er den Menschen nur so zu, dann sieht er mit dem Teleobjektiv seiner Kamera in die Fenster, und wenn es dunkel wird, gehen drüben die Lichter an. Und dann, in einer heißen Nacht, beobachtet er seltsame Vorgänge in der Wohnung, die seiner genau gegenüberliegt. Ein Gewitter tobt draußen, der Mann da drüben schafft Koffer aus dem Haus. Und am nächsten Tag ist seine bettlägerige Ehefrau weg. Hat Jeff zugesehen, wie der Nachbar (Raymond Burr) die Leiche seiner Frau beiseite geschafft hat - oder bildet er sich das alles bloß ein?

Die perfekte Idylle wurde mit ungeheurem Aufwand konstruiert

Bald machen Lisa und Stella mit bei dem Detektivspiel hinter Fensterglas. Jeff ruft einen Freund zur Hilfe, der bei der Polizei ist, und der findet ein paar Dinge heraus die die drei Freizeit-Ermittler beruhigen sollen. Angeblich ist die Ehefrau verreist, in aller Herrgottsfrüh. Eine gute Gelegenheit für Lisa, Jeff zu beweisen, dass sie vielleicht doch genug Mut hätte, ihn auf seinen Reisen zu begleiten: Sie steigt drüben ein. Es geht dann, wenn es brenzlig wird, gar nicht so sehr darum, dass Jeff aus seinem verdammten Rollstuhl nicht herauskommt, sondern um sein Gefühl der Ohnmacht, dass er Lisa, von der er gerade noch gar nicht wusste, wie wichtig sie ihm ist, nicht beschützen kann.

Es gehört zur Mechanik von Kriminalfilmen, erst einmal eine perfekte Idylle zu schaffen, bevor der Schrecken den Zauber beeinträchtigen kann. Das ist ein gängiges Motiv im englischen Kriminalroman, schon Agatha Christie gab ihren Geschichten gern romantische Anwesen auf dem Lande als Hintergrund. Und Alfred Hitchcock hat das auf seine Art in Bilder übersetzt - er hat ganz bewusst in seinen Filmen eine Atmosphäre hergestellt, die absolut künstlich wirkt, mit Licht und gemalten Filmkulissen. Dieser Hof, der im Film als an der 9. Straße gelegen beschrieben wird, ist von einem realen Vorbild an der Christopher Street im Süden von Manhattan inspiriert und wurde mit ungeheurem Aufwand im Studio nachgebaut. Einen solch rosaroten New Yorker Sommerabendhimmel, wie er sich vor Jeffs Fenster ergießt, hat es in der Natur nie gegeben, er ist nur ein Wunschtraumbild.

Genau deswegen hat dieser Film, der fast Rentenalter erreicht hat, nichts von seiner Faszination verloren - er ist ein unverwüstliches Meisterstück des Krimis, weil er so vollkommen Emotionen erzeugt, Zauber, Angst, dass es dieses Idyll gar nicht gibt - aber die Ordnung wird wieder hergestellt. Klar kann man auch eine Geschichte erzählen, an deren Ende dem Hinterhof nie wieder zu trauen ist. Aber sie wäre eben nicht annähernd so beruhigend wie der Ehestreit der Nachbarn, der Sonnenschein auf dem Rasenstück und der künstliche Himmel in "Das Fenster zum Hof", wenn alles vorüber ist.

© SZ vom 31.03.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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