Neues Museum für Hans Christian Andersen:Des Kaisers neue Wände

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Ein Bau, der zurückschaut: Das neue Hans-Christian-Andersen-Haus von Kengo Kuma in Odense, Dänemark (Foto: H.C. Andersens Hus, Laerke Beck Johansen)

Hässliches Entlein, Prinzessinnen und Erbsen: Hans Christian Andersen wird im dänischen Odense mit einem neuen Museumsbau geehrt. Ein Besuch.

Von Kai Strittmatter

Ein Park inmitten der geduckten Häuser des alten Stadtzentrums, nicht groß. Pavillons aus Holz und Glas, die sich sanft aus der Erde erheben. Hier ein Hügel, dort ein Bruch, ein versunkener Garten. Im neuen HC-Andersen-Haus im dänischen Odense verschränken sich die Welten, das Oben und das Unten. Drinnen eine Rampe, ein mäanderndes Band, das einen hinabführt aus dem Hellen ins Dunkle. Vom Band die Stimme des Dichters, der sich streitet mit dem Erzähler: "In so einem Loch wurde ich nicht geboren!" Wurde er doch. In der Mitte des Raums der Dichter als Scherenschnitt, zu Gast in den Stadtpalais und Landgütern seiner wohlhabenden Gönner; das gefiel ihm schon besser.

Hans Christian Andersen, der selbst meist als HC zeichnete, erzählte auch sein eigenes, von 1805 bis 1875 währendes Leben immer wieder neu, immer wieder anders. Wer würde ich am liebsten sein, wenn ich nicht ich selbst wäre? Ein Fragebogen, den Hans Christian Andersen einst ausfüllte. Seine Antwort: "Hans Christian Andersen". Was fürchte ich am meisten? "Mich selbst".

Geküsst wollte er werden - und als Dichter nicht vergessen; der eine Wunsch ging in Erfüllung, bei dem anderen war es schwieriger

Auf kleinen Tafeln entlang der Rampe Ausrufe Andersens: "Auch ich möchte geküsst werden." Und dieser hier: "In glücklichen Tagen, vergesst den Dichter nicht". Der Wunsch wenigstens ging in Erfüllung, wenn ihm schon andere - der Kuss - schmerzlich verwehrt blieben.

Das neue Haus in Odense hat Kengo Kuma gebaut, der japanische Stararchitekt, der auch das Olympiastadion in Tokio entwarf. Kuma sagt, er sei mit Andersens Märchen aufgewachsen, wie alle Japaner, alle Dänen, alle Deutschen. Es wirkt wie vorsichtig hineingepflanzt ins Zentrum der kleinen Stadt mit ihren engen Gassen und niedrigen Häusern. Ein organischer Bau, ganz ohne Ecken, Kanten, scharfe Winkel, bei dem die von Kumas Mitarbeiterin Yuki Ikeguchi gesetzte Landschaft, die Hecken, der Bambus und das Buschwerk integraler Teil der Architektur sind. Es wächst noch, dieses Haus, und es wird noch in zehn, in fünfzig und in hundert Jahren wachsen.

An Nachruhm hat es HC Andersen nie gemangelt. Nicht draußen in der Welt, wo seine Geschichten bis heute immer wieder neu erfunden werden, am profitabelsten und folgenreichsten im Disney-Universum. Und nicht zu Hause in Dänemark, wo sie ihn immer gefeiert, wenn auch vielleicht nicht immer in all seiner Komplexität und Größe gewürdigt haben. Andersen erfand das Märchen neu in seiner Zeit, er zeigte dabei universelle Aspekte der menschlichen Existenz so kunstvoll, dass die Titel vieler seiner Geschichten - "Des Kaisers neue Kleider", "Das hässliche Entlein", "Die Prinzessin auf der Erbse" - bis heute sprichwörtlich sind.

Als Schauspieler kläglich, aber immerhin schnell gescheitert, als Dichter dafür von Fürsten und Prinzessinnen bewundert

Die Kopenhagener machen sich gern über die Obsession Odenses mit HC Andersen lustig: Ja, Andersen wurde hier geboren, aber ist er nicht mit 14 abgehauen aus der kleinen Provinzstadt und hat nicht einmal zurückgeschaut, fragen sie? Ein armer Schustersohn, begierig nach der frischen Luft, der Freiheit und den freigiebigen Mäzenen der Hauptstadt. Als Schauspieler ist er dort kläglich, aber immerhin schnell gescheitert, als Dichter machte er sich sodann Fürsten und Prinzessinnen in ganz Europa zu Bewunderern, verkehrte mit Charles Dickens und Victor Hugo - und hat in der weltweiten Popularität seine schreibenden Zeitgenossen posthum womöglich überholt.

Kleine Meerjungfrau im Hans-Christian-Andersen-Haus im Rendering der Architekten von Kengo Kuma & Associates (Foto: Kengo Kuma & Associates, Cornelius Vöge, MASU planning)

Die Kopenhagener unterschlagen dabei gerne, dass HC Andersen auch ihre Stadt, die ihn den Emporkömmling oft spüren ließ, immer wieder floh. Dass er ihre biedermeierliche Enge und ihre Intrigen tauschte mit der Weite ausgedehnter Reisen nach Italien, Deutschland, England, Frankreich. Und nach seinem Tod 1875, in welcher Münze gedachten sie seiner in Kopenhagen? Sie gaben ihm ein Grab im Assistens-Friedhof, dem schönsten der Stadt, ja. Sie schenkten seiner Kleinen Meerjungfrau 1913 eine Statue, zunächst kaum beachtet, bald Touristenattraktion: Es gelang den Kopenhagenern mit ihrer bronzenen - und wirklich sehr kleinen - Meerjungfrau das Kunststück, die traurige Geschichte einer unerwiderten Liebe in den Dienst einer weltweit ausstrahlenden Erlebniswirtschaft zu stellen und sie dabei mit pragmatischem Kaufmannssinn in ein Markenzeichen für das im Kern doch eher robuste, unromantische Dänentum zu verwandeln. Schließlich benannten sie 1955 einen sechsspurigen "Boulevard" nach dem Poeten, heute die lauteste und verschmutzteste Straßensünde Kopenhagens.

Die Odenseaner hatten auch so ein Monster von Straße, das in den Sechzigerjahren ihre Altstadt in zwei Teile hieb. Odense aber entschied vor ein paar Jahren, dem Ungetüm an den Kragen zu gehen, die Straße stillzulegen. Und so ist hier jetzt, im Sommer 2021, mit einem Mal Platz für eine neue Tram, für Flaneure und für viel Grün, Platz aber auch für das neue HC-Andersen-Haus, das umgerechnet 54 Millionen Euro gekostet hat - ein Neubeginn für die Stadt, der auch einem neuen Blick auf HC Andersen Raum schafft.

Sie haben ausgemistet, alles neu gedacht. "Wir wollten nicht mehr über HC Andersen sprechen", sagt Henrik Lübke, der Kreativdirektor des Andersen-Hauses. "Wir wollten, dass die Ausstellung wie HC Andersen spricht." Wo einen im alten Museum viele Artefakte erwarteten, viele Fakten, viele Antworten, stellt das neue Haus vor allem Fragen. Wie findet einer seinen Platz? Was macht einen zum Menschen? Und wie war das mit der Liebe? Waren es die Frauen, die ihn verschmähten, wie Andersen zu Lebzeiten glauben machen wollte, oder war es nicht in Wirklichkeit der kühl-distanzierte Freund Edvard Collin, dem all sein Sehnen galt, dem er innige Briefe schrieb ("Du erwiderst es nicht! Es quält mich"). Eine unmögliche Liebe, wie die der Meerjungfrau zu ihrem irdischen Prinzen. Viele von HC Andersens Märchen nehmen kein gutes Ende.

Bei der Frage, was nun fesselnder ist, der Mann oder sein Werk, bleibt das Haus aufs Fruchtbarste unentschieden

Man findet schon das eine oder andere Stück des Autors: seinen Koffer, seinen Geldbeutel, die Schere, mit der er die verspielten Scherenschnitte schuf, sein Tintenfass und seine Feder. Aber die Dinge sprechen, über das Headset flüstern sie einem ihre eigene Version der Ereignisse zu. Sie prahlen, streiten miteinander und widersprechen ihrem Besitzer, dabei ist ihre Version der Dinge nicht unbedingt zuverlässiger als die von HC Andersen. Der Rosenkranz, erworben in der Schweiz, tut so, als wäre er aus Spanien, das Tintenfass rühmt sich als eigentlicher Quell von Andersens Worten. Andersen selbst hätte das wohl gefallen, er hatte Humor. Eitel war er auch, eine der meistfotografierten Persönlichkeiten seiner Tage.

Bei der Frage, wer denn nun fesselnder ist, der Mann oder sein Werk, bleibt das Haus aufs Fruchtbarste unentschieden. Am Ende der Rampe tut sich der Bauch des Hauses auf, die Unterwelt, eine Höhle ganz den Märchen gewidmet, die dort zum Leben erwachen, aber nur, wenn der Besucher mitspielt, angeregt von den Installationen, den Animationen, und den Stimmen aus dem Headset. Wenn der Betrachter etwa seinen Schatten auf eine Leinwand wirft, und der dann mit einem Mal sein eigenes Leben beginnt, wie in Andersens düsterer Geschichte "Der Schatten" (in der am Ende der Schatten die Rollen umkehrt, und den Schriftsteller zu seinem Schatten macht).

Märchenwald: Das Hans-Christian-Andersen-Haus besteht nicht unwesentlich aus seinen Pflanzen (Foto: Kengo Kuma & Associates, Cornelius Vöge, MASU planning, mir.no/Mir)

In einem Raum darf man sich rücklings auf den Boden legen und den Stimmen der Meerjungfrauen lauschen, die um einen herum tauchen. Man liegt direkt unter dem geplanten Gartenteich, wenn die Bauarbeiten einmal abgeschlossen sind - im Moment ist "soft opening" - dann werden dort durch die Glasdecke auch die Spiegelungen des Wassers mit einem spielen. In einer anderen Ecke lädt eine zickige Prinzessin potenzielle Freier zur Castingshow. "Großzügig gestiftet" vom dänischen Königshaus wartet ein Bett mit einem Berg prachtvoller Matratzen, daneben, ebenfalls eine "Leihgabe des königlichen Hofs": eine vertrocknete Erbse auf samtenen Kissen. An der Wand hängen lange Expertisen von führenden "Matratzologen", die die Echtheit der Erbse sowie die wissenschaftliche Korrektheit von Andersens Erzählung wortreich belegen.

Zuallerletzt wartet ein Raum, in dem das Werk und der Mann noch einmal zusammenkommen, gewidmet dem Märchen, das HC Andersen selbst in einem Brief einmal als "Abspielung" seines eigenen Lebens bezeichnete: das hässliche Entlein. "Was bist du denn für einer?", fragen die anderen spöttisch, als das Entlein endlich seine Schale durchstoßen hatte. HC Andersen war nicht nur der ewige Außenseiter, er wusste auch um sein unvorteilhaftes Aussehen. Friedrich Hebbel erzählte von seiner "schlottrigen lemurenhaften-eingeknickten Gestalt", ein amerikanischer Weltenbummler beschrieb nach einem Treffen 1862 Andersens Mund als "breiten Riss über das Gesicht, den man für den Schlund eines kinderschluckenden Trolls hätte halten können, wären da nicht die Sonnenstrahlen der Güte seines Herzens, die um die Lippen spielten".

Es dauerte einen langen, kalten Winter, bevor die Federn des vermeintlichen Entleins brausten, sein schlanker Hals sich hob und es zum "schönsten aller schönen Vögel" wurde. Der Geschichte wenigstens hat HC Andersen ein Happy End spendiert, und der Besucher darf von hier aus die Rampe langsam wieder hochsteigen.

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