Haus der Kulturen der Welt:Wir werden geschrieben

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Im Berliner Haus der Kulturen der Welt versucht das Großprojekt "Das Neue Alphabet" die kulturhistorische Analyse der Digitalisierung, vom Ursprung der Schrift bis zum genetischen Code. Nicht alles überrascht, aber manches erschüttert.

Von Jörg Häntzschel

In den Neunzigerjahren, als man sich vor Verslumung fürchtete, glaubten Hardliner an die "Broken-Windows-Theorie". Einem eingeschmissenen Fenster, so die These, folge bald das zweite, so beginne der Niedergang von Stadtvierteln. Heute sind diese Viertel gentrifiziert. Die Sorge vor eingeworfenen Scheiben ist von außen in die Wohnungen der Besserverdiener hineingewandert, die sich nun vor Einbrechern fürchten.

Genau deshalb schlägt in einem Flugzeughangar in England ein Team von Ingenieuren Fenster um Fenster ein - Tausende, jeweils nur an einem Gerüst befestigt, um zertrümmert zu werden. Mit ihrem Bersten und Klirren, aufgezeichnet von einem Dutzend Mikrofonen, wird anschließend eine Software gefüttert, die lernen soll, das Geräusch einer zerbrechenden Scheibe zu erkennen, um dann, als App in Smartphones oder Home Devices, einen privaten Sicherheitsdienst zu alarmieren.

Die Künstlerin Hito Steyerl hat den Labor-Vandalismus in einem Film festgehalten, den sie bei der Konferenz "Das Neue Alphabet" am Wochenende im Berliner Haus der Kulturen der Welt (HKW) gezeigt hat. In ihrem Vortrag fragte sie, was bleibe, wenn die Scherben zusammengekehrt sind. Es bleiben Geräte, die unsere Wohnungen abhorchen, es bleiben private Sicherheitskräfte, und vor allem viele lukrative Daten.

Über die Grenzen von Sparten und Disziplinen hinweg

Was das nun mit dem "Alphabet" im Titel der Tagung zu tun hat? Genau das versuchten die 120 mitwirkenden Künstler und Wissenschaftler und mit ihnen mehrere Tausend Besucher an drei Tagen herauszuarbeiten.

"Das Neue Alphabet" ist das dritte Großprojekt, mit dem sich das HKW unter seinem Intendanten Bernd Scherer seit 2013 durch die Fragen der Gegenwart arbeitet. Das erste galt dem Anthropozän, das zweite, "100 Jahre Gegenwart", beschäftigte sich mit der heutigen Wahrnehmung von Zeit. Das dritte, das wie die Vorgänger auf drei Jahre angelegt ist, setzt sich mit der Digitalisierung auseinander. Und auch diesmal ist es nicht nur die Dringlichkeit des Themas, die das HKW antreibt, sondern die Tatsache, dass Institutionen wie Universitäten oder Museen oft das Instrumentarium fehlt, nie dagewesene Phänomene wie die Digitalisierung zu packen.

Im HKW gelten Grenzen von Sparten und Disziplinen nicht. Am Wochenende diskutierte deshalb der Biochemiker Johannes Krause mit Leuten von Bosch und Google, traf der KI-Forscher Luc Steels auf den Künstler Trevor Paglen, und als die Ausführungen des Philosophen Eric Sadin allzu selbstgefällig wurden, war man froh, dass der Kameruner Tänzer Zora Snake ihn mit seiner Performance mitten im Satz von der Bühne drängte. Am ersten Tag, für den Alexander Kluge verantwortlich war - in der begleitenden Ausstellung sind von ihm auch zehn Stunden neuer Filme zu sehen - , ging es um eine kulturgeschichtliche Einordnung des Digitalen. Was ist es überhaupt? Etwas jedenfalls, das unserem Alphabet nicht unähnlich ist. Mit seiner begrenzten Zahl diskreter, also eigenständiger Zeichen, die für sich noch keinen Sinn enthalten, sei dieses eine Art Protoform des Digitalen, so die Philosophin Sybille Krämer. Leibniz war es, der in seiner "Universalsprache" nach dem kombinatorischen Prinzip des Alphabets das gesamte Weltwissen aus einer begrenzten Zahl einzelner Elemente auszudrücken hoffte.

Das Problem der Digitalisierung liege darin, so Scherer, dass die Wissensproduktion immer mehr verdrängt werde durch die "Alphabetisierung" des Wissens, also die Zerlegung des kontinuierlichen Wissens in kleinste, vermeintlich "objektive" Einheiten. Die Aufgabe, sie zu kombinieren und Sinn aus ihnen zu erzeugen, wird ausgelagert: an Programmierer, die ihrerseits die Maschinen instruieren. An die Stelle des linearen Wissens tritt also das digitale, "objektive", unendlich kombinierbare Wissen, mit dem die Googles und Amazons ihre Milliarden machen. Auch das Leben selbst unterliege seit den Durchbrüchen der Genetik dieser Logik; Lebewesen sind "lesbar" geworden.

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Doch allen Jubel- und Horrorvisionen zum Trotz, so erklärte der KI-Forscher Luc Steels, tue sich die künstliche Intelligenz noch immer schwer, Sinn und Bedeutung zu verstehen, etwa in Sprache. Diese Beschränktheit bestimme auch die Kultur der sozialen Netze, so der Zürcher Medienforscher Felix Stalder: Was für die Algorithmen von Facebook oder Instagram von Bedeutung ist, sind nicht Inhalte, sondern das, was man "engagement" nennt. So entstehen Rückkopplungen, Kurzschlüsse, Echokammern, in denen Fake News und Verschwörungstheorien blühen. Mit den Instrumenten und Werten der Aufklärung ist die Menschheit an den Punkt gekommen, an dem sie neuen Formen derselben Irrationalität begegnet, die aus der Welt zu schaffen sie angetreten war. Diese Krise der Aufklärung wurde zum Hauptthema der Konferenz.

Es gibt noch eine andere Konsequenz aus der Dummheit der smarten Maschinen. Sie können nur reproduzieren, was man ihnen beigebracht hat. Und weil sie so blind sind für Kontexte halten sie einen Mann mit Krawatte für einen "leader" und einen im T-Shirt für einen "worker"; deshalb scheitern sie an Michael Jackson, den sie als "6 percent black" beschreiben.

Kate Crawford vom Institut AI Now der New York University und der Künstler Trevor Paglen gaben in ihrem Vortrag einen ziemlich erschütternden Einblick in die verborgene Welt der von Menschen klassifizierten Bildkataloge, auf die die KI ihre Entscheidungen gründet. Nicht nur stecken die Taxonomien voller Fehlerquellen, sie stützen sich oft auch auf Lehren, die außerhalb der digitalen Welt längst widerlegt sind, die Theorie etwa, dass sich die gesamte menschliche Gefühlswelt in sechs Kategorien klassifizieren lasse.

Vor allem aber unterwirft die automatisierte Informationsgewinnung alle Menschen einer neokolonialen Logik. Der Begriff "extraction industry", Verwertungsindustrie, ist hier noch treffender als "Plattformkapitalismus: Der Mensch ist eine Mine, seine Daten sind der Rohstoff, den es auszubeuten gilt. Dass das Training der KI immer ideologisch gefärbt ist, ist das eine. Das andere ist die Tatsache, dass die automatisierte Erkenntnisgewinnung ohne öffentliche Kontrolle vonstatten geht. Bei Google sowieso. Aber auch bei der New Yorker Polizei. Natürlich braucht sie eine gerichtliche Genehmigung, um Wohnungen zu durchsuchen, nicht aber, um Demonstranten mit Drohnen zu filmen, deren Bilder per Gesichtserkennung analysiert werden. Erstaunlich, wie viel Gerechtigkeit und Neutralität der Mensch den Maschinen zutraut.

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Damit verbündet sich die Staatsmacht mit der des Silicon Valley zu einer Formation, wie es sie in der Geschichte noch nicht gegeben hat. China mit seinem sozialen Kreditsystem bildete den dystopischen Horizont des Wochenendes, es ist das krasseste Beispiel für die Logik, die allen digitalen Mechanismen zugrunde liegt: Sie erzeugen Realität und führen uns. Wir schreiben nicht nur mit am unendlichen digitalen Wissen, wir werden geschrieben.

Während Max Senges von Google beschwichtigte ("Wir treiben keinen Schindluder"), erklärte Andrej Heinke von Bosch, Machtungleichheiten wie die heutigen hätten historisch nie lange bestanden. Man müsse sie korrigieren, bevor es zum gewaltsamen Umbruch komme. Was also tun, bevor die "Siliconialisierung" (Sadin) unumkehrbar wird, bevor die "Privatisierung von Öffentlichkeit" (Joseph Vogl) den letzten Raum gefressen hat, in dem sich Gegenpositionen formieren könnten?

Müsste Facebook nicht uns für unsere Beiträge entlohnen? Hilft es, die Algorithmen mit falschen Informationen zu verwirren? Sollten wir Reservate schaffen, auf die die Tech-Konzerne keinen Zugriff haben? Sybille Krämer und viele andere im HKW dachten größer: Sie forderten eine neue Aufklärung.

© SZ vom 15.01.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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