Friedenspreis des Deutschen Buchhandels:Man stirbt nicht an Hunger, sondern an Armut

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Mit seinen Ideen von Freiheit und Gleichheit hätte Amartya Sen Moralphilosoph werden können, blieb aber Wirtschaftswissenschaftler. (Foto: imago images/Hindustan Times)

Der Wirtschaftswissenschaftler und Philosoph Amartya Sen bringt in seinem Werk Moral und Wirtschaftswissenschaft zusammen - mit Analysen statt frommer Appelle.

Von Thomas Steinfeld

Zu den Gestalten, die der indische Wirtschaftswissenschaftler und Philosoph Amartya Sen in die Welt setzte, gehört der "rational fool", der "rationale Narr", manchmal auch "rationaler Trottel" ("moron") genannt. Er ist, im Positiven, eine Lieblingsfigur der klassischen Ökonomie: der eigennützige Mensch, der, um seines persönlichen, im Grunde genommen gesetzlosen Interesses wegen den gesamten sozialen Verkehr mitsamt Warenwirtschaft und Gewinnstreben hervorbringt. Immanuel Kant hielt nicht viel von diesem Dummkopf, der seine Umgebung mit den "blöden Maulwurfsaugen der Selbstsucht" anschaut und nichts hervorbringt als eine kleine, von ihm allein bewohnte Insel der Rationalität in einer vom Zufall beherrschten, im Ganzen unvernünftigen Welt. Dieser Narr erlebte in der Welt nach Kant eine steile Karriere. Auch deshalb kommt den wenigen Theoretikern, die ihn bei seinem richtigen Namen nennen, eine Bedeutung zu, die über das jeweilige Werk weit hinausreicht.

Den Großteil seiner Arbeit widmete er der Entwicklung einer moralisch fundierten Wirtschaftswissenschaft

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In diesem Jahr wird Amartya Sen, im November 1933 in Westbengalen geboren, den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhalten, die im moralischen Sinn höchste Auszeichnung, die ein Künstler oder Intellektueller in Deutschland erhalten kann. Der Preis gilt einem Menschen, dem es an Anerkennung für sein Werk wahrlich nicht mangelt. Er lehrte im britischen Cambridge und lehrt immer noch an der Universität Harvard, er ist Mitglied mehrerer Akademien, er erhielt im Jahr 1998 den Alfred-Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften, seine Bücher sind in alle großen Sprachen übersetzt. Dennoch versteht man in einem Jahr, in dem Hunderttausende Menschen ihr Leben in Folge einer Seuche ließen (und weiter lassen werden), während die Hauptsorge von Politik und Wirtschaft vor allem der Rettung nationaler Ökonomien gilt, warum die Wahl der Frankfurter Jury auf diesen Gelehrten fiel: Amartya Sen hat den größten Teil seiner Arbeit dem Versuch gewidmet, eine moralisch fundierte Wirtschaftswissenschaft zu entwickeln.

Sein Mittel ist dabei nicht der Appell, der in die Welt hinaustönt und dem Appellierenden mitsamt Anhängern ein gutes Gewissen beschert, was den Adressaten herzlich gleichgültig bleiben kann. Sein Mittel ist das Aufdecken von Widersprüchen durch Konkretisierung. So argumentierte er in "Poverty and Famines" ("Armut und Hungersnöte", 1981), dass die Menschen in der Dritten Welt keineswegs am Hunger sterben, sondern daran, dass sie die Nahrungsmittel nicht bezahlen können. Dem Essay lag persönliche Erfahrung zugrunde. Als Kind war Amartya Sen Zeuge der Hungersnot in Bengalen gewesen, bei der mindestens drei Millionen Menschen starben. In "Development as Freedom" (1999) erklärte er, dass Freiheit eine Phrase bleibe, solange sie sich nicht in der Möglichkeit niederschlage, konkrete Entscheidungen über den Verlauf des eigenen Lebens zu treffen - was ein gewisses Maß an ökonomischer Unabhängigkeit einschließt. Den Gedanken übertrug er später in dem Essay "Equality of What?" (2010) auch auf das Prinzip der Gleichheit.

Er arbeitet an der Entwicklung einer moralisch fundierten Wirtschaftswissenschaft

Mit solchen Ideen hätte Amartya Sen Moralphilosoph werden können. Er blieb aber in erster Linie Wirtschaftswissenschaftler, mit einer engen Bindung an Empirie, Statistik und Exaktheit. So geriet er zwar auf der einen Seite in eine intellektuelle Nachbarschaft zu Philosophen wie Martha Nussbaum, einer Theorie der Entfaltungsmöglichkeiten des Menschen ("capability") wegen, und in Widerspruch zu den populären Lehren vom "Kampf der Kulturen", denen er einen eklatanten Mangel an Differenzierung nachwies. Auf der anderen Seite aber entwickelte er für die Vereinten Nationen einen sogar mathematisch erfassbaren "Wohlstandsindikator" für Staaten, der Lebensqualität nicht nur materiell misst, sondern auf Faktoren wie Bildung, persönliche Unabhängigkeit oder Gleichheit unter den Geschlechtern Rücksicht nimmt. Vor allem aber blieb Amartya Sen seiner indischen Herkunft treu, im Material, das er für seine Studien heranzieht, in seinen Argumenten, in denen er immer wieder auf die ökonomische und soziale Situation eines großen Schwellenlandes zurückgreift, und schließlich auch im Hinblick auf die Rolle, die er international als Stimme dieser Region besitzt.

Im vergangenen Jahr hatte der brasilianische Fotograf Sebastião Salgado den Friedenspreis erhalten, ein Mann, der mit Bildern aus dem tiefsten Elend der Dritten Welt berühmt geworden war. 2018 war das Gelehrtenpaar Aleida und Jan Assmann geehrt worden, weil aus ihren Arbeiten eine kulturelle Phänomenologie der westlichen Welt hervorzugehen scheint, in einem positiven, zur Identifikation einladenden Sinn. Gewiss, mancher Kommentator wird jetzt sagen, es hätte in diesem Jahr, das so anders ist als die Jahre zuvor, einen anderen Preisträger gebraucht, jemanden, der einer zu erwartenden großen Krise ein kulturelles oder gar literarisches Programm hätte entgegenhalten können. Stattdessen setzt Amartya Sen die Reihe der Preisträger fort, die in großen Panoramen und mit einem kritischen Impetus über die Weltlage nachdenken. Die Figur des "rationalen Narren" mag sich bei dieser Tätigkeit als eine überaus nützliche Erfindung erweisen.

© SZ vom 18.06.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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