Legacy Russells Manifest "Glitch Feminismus":Zweite Haut

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Legacy Russell ist das Wunderkind der New Yorker Digitalkunst. In ihrem Manifest "Glitch Feminismus" rät sie zur Verschlüsselung des weiblichen Körpers.

Von Samir Sellami

Spätestens in den finsteren Fünfzigern des 20. Jahrhunderts muss der Historiker Ernst Kantorowicz auf seinen betörenden Gedanken gekommen sein, wonach die Könige im Mittelalter immer schon zwei Körper hätten: den irdischen und übernatürlichen, den sterblichen und unverderblichen, den privaten und öffentlichen. Vierzig Jahre später, in der eigentümlichen Dekade der Neunzigerjahre, wächst im New Yorker East Village eine schmächtige, genderskeptische, schwarze "Tweenagerin" heran, entdeckt in den "knospenden Performances" der Chatrooms und Onlineforen eine mögliche Zukunft und wünscht sich statt zwei Körper lieber gar keinen.

Es ist die Zeit, in der das Internet noch ein leerer Raum ist und ein Versprechen von der Überwindung kultureller Grenzen, nach der Abschaffung von Politik. Draußen auf den grafittigesäumten Straßen ist ihr Name Legacy Russell, doch zu Hause im Netz heißt sie LuvPunk12, so wie damals alle heißen, die auf Messengerdiensten mit penetranten Signaltönen rumlungern, die MP3s auf CDs brennen und ihren Freundinnen über hotmail, gmx und web.de elend lange E-Mails schicken, ohne Absätze und manchmal sogar ohne Satzzeichen.

Gemessen in Internetzeit ist das Lichtjahre her, die Lower East Side heute bis auf die letzte Garage durchgentrifiziert, das Netz ein mindestens ebenso polarisierter Lebensraum wie die Draußenwelt. Und weil man für seine digital ausstaffierten "multiplen Selbste" inzwischen meistens einfach den Klarnamen benutzt, heißt Legacy wieder Legacy Russell und nicht mehr LuvPunk12, lebt wieder in Manhattan, aber auch irgendwie immer noch gleichzeitig im Netz.

Legacy Russell: Glitch Feminismus. Ein Manifest. Aus dem Englischen von Ann Cotten, Barbara Eder, Franziska Füchsl, Mark Kanak, Jakob Kraner, Claire Palzer, Fiona Sironic, Lotta Thießen und Bradley Williams Cohen. Merve, Leipzig 2021. 151 Seiten, 16 Euro. (Foto: N/A)

Sie - wenngleich es einem die Mode der Zeit und ihre Selbstbeschreibung als "digitaler Orlando" ans Herz legen, an dieser Stelle eine Entsprechung des genderfluiden Pronomens "they" einzusetzen -, Legacy Russell also ist heute eine wahnsinnig erfolgreiche, wahnsinnig vernetzte, wahnsinnig disziplinierte Kuratorin, Texterin, Kunstvermittlerin, Kunsttheoretikerin. Nach Stationen im MoMa PS1 und dem Studio Museum in Harlem leitet die 1986 geborene Goldsmiths-Absolventin seit wenigen Monaten die legendäre New Yorker Kunstinstitution "The Kitchen", für viele die weltweit bedeutendste gemeinnützige Spielstätte für experimentelle Kunst. Dazu kommt eine rege Vortrags- und Publikationstätigkeit: Kunstkritiken, Lecture Performances, Videoessays, Ausstellungstexte, Instagramposts. Ein 22-seitiger, downloadbarer Lebenslauf führt als Forschungsinteressen außerdem an: digitale Lebensführung, Internet-Idolatrie, Rituale in Neuen Medien, Gender/Performance.

All das steckt in "Glitch Feminismus", Russels Buchdebüt aus dem Jahr 2020, das ein neunköpfiges, hochmotiviertes Übersetzungskollektiv um Ann Cotten in waghalsiges Deutsch übertragen hat. "Glitch" ist ein Begriff aus der digitalen Kultur, der eine unvermeidliche, aber unvorhersehbare Störung im System bezeichnet, eine plötzliche Abweichung vom Protokoll, einen unverzeihlichen Aussetzer im Programmablauf: "In der Technokultur ist Glitch Bestandteil der Maschinenangst, ein Anzeichen dafür, dass irgendwo irgendwas schiefgelaufen ist." In der Technokultur ist Glitch alles, was der Unfall ist.

Für Russell steckt in dieser technodämonischen Sabotage der Norm ein kostbares "Potenzial der Verweigerung". Sie nimmt es zum Ausgangspunkt ihres ambitionierten "Manifests", das sich in zwölf dichten Kurzkapiteln durch allerhand feministische Theorie, experimentelle Gegenwartskunst und avanciertes Onlineverhalten "flext" und dabei Kontakt hält zu einem afroamerikanischen Kulturkanon, der sich nach und nach als Legacys eigentliche "legacy", als ihr intimstes Vermächtnis erweist.

In der Industrialisierung arbeiteten die Körper in den Fabriken, heute generieren sie Daten

Der Jugendtraum von LuvPunk12, der eigenen Haut durch eine Hinwendung zum Digitalen zu entkommen, mag heute hoffnungslos naiv erscheinen. Doch Russells Hauptgegner ist noch immer der Körper: als Zurichtungsinstrument, als alteuropäisch-binäres Konstrukt aus männlich und weiblich, tot und lebendig, krank und gesund, Seele und Leib . Diesem restriktiven Körperregime, das schon der minderjährigen LuvPunk12 "auf eine aggressive Art nichtssagend" vorkam, gelte es, durch künstlerische, poetische, diskursive, auch technische Interventionen immer wieder neu zu entgleiten.

Auf dem Spiel steht nichts weniger als die vollständige Kontrolle unserer digital vernetzten Selbste durch den Daten-Extraktivismus: Ging es im 19. und 20. Jahrhundert noch darum, aus möglichst vielen Körpern möglichst billige Arbeitskraft abzuschöpfen, steht nun das Abgreifen von Daten über Vorlieben und Verhaltensmuster im Vordergrund. Ein Feminismus auf Höhe der Zeit kann sich nicht mit der individuellen Körperbefreiung begnügen. Er muss die Körper "chiffrieren", sie schwieriger lesbar machen für die algorithmische Macht, die sich in den Händen weniger Tech-Unternehmen konzentriert.

In Abgrenzung eines allzu körperfixierten Feminismus richtet sich Russells "Manifest" gegen jegliche Form von "Identitätskunst" und die damit verbundenen politischen Programme. Ihr geht es nicht um das Suchen und Finden immer neuer Identitätspositionen, denen immer neue Zuschreibungen und Etikette entsprechen sollen. Ihr geht es nicht darum, den vermeintlich anderen Körper sichtbar zu machen, den Marginalisierten eine Stimme zu geben. Ihr geht es darum, die Stimmen zu verzerren, den Körper zu verfremden und zu verschlüsseln: Feminismus als Gender-"Abrüstungsprogramm", Glitchen als Lebensform.

Es geht darum, den "Hetero-Rhythmus" zu stören, den genormten Körper zu "ghosten"

Doch wie macht man einen Körper algorithmisch unlesbar? Das zeigt in herausragender Weise ein schwarzer amerikanischer Künstler, der sich "American Artist" nennt: Sein Pseudonym macht ihn einerseits zum generischen Künstler schlechthin, andererseits zum ungooglebaren Geist. Wer nach diesem Künstler sucht, muss sich erst einmal an Hopper, Basquiat und Warhol vorbeiklicken. Wer aber nur fix ein wenig Material zur US-amerikanischen Kunstgeschichte abschöpfen will, stößt mit etwas Glück auf den einzigen amerikanischen Künstler, dem dieser Name von nun an wirklich gebührt.

Andere Protagonisten, die Russells "Glitch Feminismus" kommentierend auf die Bühne hebt, bieten für ähnliche Ziele alternative Strategien an. Manche konzentrieren sich auf das gesprochene Wort, das körperlose Zeichen, die Schrift an der Wand, andere verwandeln ihren Körper in ein performatives Experimentierfeld für Bildschnipsel, Sounds und Projektionen.

Wieder andere machen sich durch Drag, Butō und ähnliche Übertreibungskünste das Gestenrepertoire der Durchschnittsgesellschaft zu eigen, nur um es im nächsten Moment umso heimtückischer von sich abstoßen zu können. Ihnen allen gemeinsam ist die Intention, den "Hetero-Rhythmus" zu stören, den genormten Körper zu "ghosten", die "flotten Marginalisierungen" von Menschen und Ästhetiken im Auftrag progressiver Realpolitik anzufechten.

Russells Stil ist klanglich verwandt mit anämischen Ausstellungstexten, aber klug

Ideengeschichtlich gesehen ist das nicht immer ganz so radikal, wie es den Anschein erweckt, schließlich gehört die organisierte Verweigerung seit jeher zum feministischen Kerngeschäft. Herauszuheben sind daher zwei andere Verdienste der (letztlich unnötig eng) als "Manifest" charakterisierten Essay-Performance. Zum einen gelingt Russell eine überzeugende Darstellung einer zeitgenössischen Internetkultur, die sich mit produktiver Nostalgie und numerischer List aus früheren Entwicklungsstufen des Mediums neue, komplexe Umgebungen baut, anstatt einfach nur unkritisch abzufeiern, was sich gerade als irgendwie neu und aufregend ausgibt. Zum andern verpasst sie dem dominanten Phänomen der theorieübersäuerten Kunstwerkbeschreibungsprosa ein mehr als überfälliges Upgrade.

Wer sich hin und wieder in zeitgenössische Kunstausstellungen verirrt, kennt die anämischen Ausstellungstexte, in denen ohne Erbarmen "Grenzen verwischt", "Kategorien hinterfragt" und "Denkweisen ausgelotet" werden. Die Klangverwandtschaft von "Glitch Feminismus" mit solchen Texten ist kaum zu überhören, aber Russell veredelt sie in einem präzise beobachtenden Stil, der seine exaltierte Klugheit niemals versteckt, genüsslich Namen droppt und dabei weder Pathos noch Albernheit scheut.

Und damit zurück zur Übersetzung. Die begnügt sich nicht einfach damit, den Glitch-Bestand ihrer Vorlage zu verwalten, sondern schießt andauernd über jegliche Ziele hinaus, stellenweise so weit, dass es die Brüche und Störgeräusche verstärkt und verdoppelt, aus denen laut Russell die vielversprechendsten Freiräume entstehen. So werden in spielerischer Verletzung der übersetzerischen Richtigkeitsregeln aus "trust-fund-children" verwöhnte "Bausparvertragskids", aus "blackness" wird "Schwarzness", aus LuvPunks "schiefer Romanze" mit dem Internet-als-leerer-Raum die "schräge Romantik" von Legacys queerfeministischer Cyborg-Fantasie. Damit leisten Cotten & Co. nicht nur eine bemerkenswerte Vermittlungsleistung, sondern dichten den zwölf Kapiteln heimlich ein dreizehntes hinzu. Seine Überschrift müsste lauten: Glitch ist Übersetzung.

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