Wie wenig man in Europa auch von Afrika weiß, eines weiß fast jeder: "Afrika" gibt es nicht mehr. Wer den riesigen Kontinent so benennt, unterschlägt nicht nur die gewaltigen Unterschiede zwischen den 54 Ländern, als seien sie nicht der Rede wert; er steht auch im Verdacht, das kolonialistische Bild vom indifferent-chaotischen "schwarzen Kontinent" zu erneuern.
Umso überraschter ist man, dass der 46-jährige senegalesische Wirtschaftswissenschaftler und Essayist Felwine Sarr das A-Wort sogar im Titel seines heute auf deutsch erscheinenden Manifests "Afrotopia" führt, eines der in den letzten Jahren meistbeachteten Werke in der Postkolonialismusdebatte. Sarrs Sprechen von Afrika, von den "afrikanischen Völkern", vom "afrikanischen Menschen" führt direkt in den Kern seiner Argumentation.
Afrikas Krise hält die westlichen Vorurteile am Leben
Vor rund 50 Jahren wurden die letzten europäischen Kolonien in Afrika in die Unabhängigkeit entlassen. Doch obwohl sie seit Jahrzehnten politisch und wirtschaftlich autonom sind, stecken viele der Länder in einer Dauerkrise. Diese Krise wiederum, so Sarr, bestätigt und aktualisiert laufend die uralten Stereotypen von Afrika als einem finsteren, katastrophischen Ort und vom Afrikaner als minderwertigem Menschen, der sich selbst nicht zu helfen weiß - das Bild also, das bei den Europäern maßgeblich dazu beitrug, Sklavenhandel und Kolonialismus zu legitimieren.
Afrikas Krise hält aber nicht nur die westlichen Vorurteile am Leben, es hält auch bei den Afrikanern die Wunden offen, die eigentlich längst hätten verheilt sein können.
Sarr versucht in seinem Essay, mit den Legenden aufzuräumen, die diese negative Feedback-Schleife am Laufen halten: Ja, die korrupten Potentaten, die nach der Unabhängigkeit vielerorts an die Macht kamen, tragen große Schuld an Afrikas Problemen. Doch in Europa, wo sich bis heute die Vorstellung hält, man habe Afrika die Zivilisation gebracht, vergesse man zu oft, wie groß der eigene Anteil an Afrikas Krise sei.
Dass ein Kontinent, der nach einigen Schätzungen direkt und indirekt 225 Millionen Menschen durch den Sklavenhandel verloren habe, Jahrhunderte brauche, um sich zu erholen, dass die Nachfolgerstaaten von Belgisch-Kongo, das in der Kolonialzeit die Hälfte seiner Bewohner verloren habe, bis heute geschwächt seien, liege auf der Hand, ganz zu schweigen vom nicht quantifizierbaren Verlust von Arbeitskraft und Bodenschätzen an europäische Geschäftemacher und Konzerne, deren heutige Marktmacht nicht selten direkt auf die Ausbeutung Afrikas zurückgeht.
Doch es sind weniger die Europäer, die Sarr aufklären will, als die Afrikaner, die das dystopische Bild von ihrem Kontinent oft unhinterfragt vom Westen übernehmen. Dies führt dann zu einer Perpetuierung des Kolonialismus mit anderen Mitteln: wenn afrikanische Länder Konzernen aus Europa oder den USA gegen schnelles Geld Abbaurechte für Bodenschätze abtreten; oder wenn sie sich von China um den Preis der eigenen Unabhängigkeit Häfen oder Eisenbahntrassen bauen lassen.
Hinter all dem steht Sarrs Befund, dass die Afrikaner die geistige Selbstermächtigung, die die politische Unabhängigkeit hätte begleiten müssen, nie vollzogen haben. Sie haben nicht nur die westliche Wirtschaftsideologie mit ihrem Glauben an Fortschritt und Wachstum nie in Zweifel gezogen, sie haben auch deren Universalitätsanspruch übernommen.