Favoriten der Woche:Laue, laute Abende

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Der Zeichentrickstil von "South of the Circle" ist einfach, aber sehr stimmungsvoll. (Foto: 11 Bit Studios/State of Play/PR)

Ein Computerspiel spürt der Liebe nach, ein Dirigent nimmt's genau, ein französischer Superminister imitiert seine literarische Adaption: Fünf Empfehlungen der SZ-Redaktion.

Von SZ-Autoren

Auf der Suche nach der verlorenen Liebe: Computerspiel "South of the Circle"

Obwohl die Erinnerung in der Kunst ein großes Thema ist, wie in der Literatur bei Marcel Proust, wo der Geschmack einer in Lindenblütentee getauchten Madeleine bekanntlich Erinnerungen in Form eines siebenbändigen Romanwerks auslösen kann, haben sich Computerspiele mit dem Thema bisher kaum beschäftigt. Was vielleicht auch daran liegt, dass sie im Gegensatz zu vielen anderen Kunstwerken selbst ein Gedächtnis haben: Sie merken sich, was die eine Spielerin gemacht hat und ein anderer versäumt hat; sie verändern sich, abhängig von den Entscheidungen, die beim Spielen getroffen werden. Und im besten Fall, erlebt jeder in ihnen eine eigene, individuelle Geschichte. Denn das Spiel ist immer auch das Spiel der Spieler - nicht nur das der Programmierer.

"South of the Circle", das schon vergangenes Jahr für Apple Arcade und diese Woche auch für Xbox, PC, Playstation und andere Plattformen erschienen ist, macht die Erinnerung nun zum Spielprinzip. 1964 stürzt der Meteorologe Peter mit einem Kollegen in der Antarktis ab und um Hilfe zu holen, muss der Spieler ihn durch eine sehr stimmungs- und stillvoll animierte Eiswüste steuern. Stürme, Schneefahrzeuge, verlassene Forschungsstationen und anderes unterbrechen diese Rettungsmission aber immer wieder, weil sie, wie die berühmte Madeleine, in Peter eine Erinnerung auslösen an seine Zeit als Dozent in Cambridge, wo er sich in die Physikerin Clara verliebt hatte.

Die zweite Ebene ist fast ein Spiel im Spiel. (Foto: 11 Bit Studios/State of Play/PR)

Obwohl Peter durch die Szenen gesteuert werden kann, läuft ein großer Teil der Handlung wie ein Film ab, bei dem der Spieler die emotionale und grobe inhaltliche Richtung der durchweg hervorragend vertonten und gespielten Dialoge bestimmt. Das Prinzip ist schon aus anderen Spielen bekannt. Der so entstehende, sich sehr natürlich anfühlende Gesprächsfluss zieht in diesem Fall aber besonders in die Geschichte zwischen Peter und Clara hinein, die bald fast dominanter wird als der Flugzeugabsturz in der Antarktis. Peter muss nicht nur durch eine Eislandschaft, sondern in den Dialogen durch eine ebenso unerforschte und zerklüftete emotionale Landschaft gesteuert werden. Und "South of the Circle" merkt sich dabei sehr genau, was Peter zu Clara gesagt hat, damals in Cambridge, als die Liebe noch mehr als eine Erinnerung gewesen ist. Nicolas Freund

Von wegen Sommerpause: Bruno Le Maire

Daumen hoch: Bruno Le Maire, Finanzminister und Romanheld, ackert den Sommer durch. (Foto: Britta Pedersen/picture alliance/dpa)

Seit er in seinen Büchern die Attentate von Paris im Jahre 2015 vorweggenommen hat, gilt Michel Houellebecq, Frankreichs Schriftsteller Nummer eins, neben allem anderen auch als politischer Prophet. Das könnte sich nun erneut bestätigen: In seinem im Frühjahr erschienenen Roman "Zerstörung" würdigt er auf verblüffend freundliche, ja begeisterte Art den französischen Finanzminister Bruno Le Maire. Der wird als politischer Schwerstarbeiter beschrieben, der Tag und Nacht für die Sache des Gemeinwohls ackert, sein eigenes Leben aber asketisch zurücknimmt. Tatsächlich sind Houellebecq und Le Maire privat befreundet, und sein Porträt im Roman liest sich wie das Versprechen auf eine Le-Maire-Präsidentschaft. In diesen Sommertagen ist Bruno in allen Zeitungen: Er sichert die Energieversorgung, bekämpft Inflation und Teuerung und man würde sich nicht wundern, wenn er persönlich die Glasscherben vom Rasen der Freibäder entfernt. Der Mann gönnt sich keine Pause - ganz im Gegensatz zu seinem Land, wo der August eine permanente Auszeit ist. Bruno, die Romanfigur, wird längst als möglicher Nachfolger für Macron gehandelt. Nils Minkmar

Kein Ton geht verloren: Blomstedts Schubert

(Foto: N/A)

Herbert Blomstedt, inzwischen 95 Jahre alt, ist nicht der aufregendste Dirigent. War er noch nie. Vielleicht liegt es mitunter auch am adventistischen Elternhaus, vielleicht an der schwedischen Bescheidenheit. Sind Schweden bescheiden? Gleichwohl hat sich Blomstedt über die Jahrzehnte mit verschiedenen Orchestern einen stabilen Ruf erarbeitet, nicht zuletzt mit dem Leipziger Gewandhausorchester als Nachfolger von Kurt Masur. Mit diesem Ensemble hat er nun die letzten beiden großen Symphonien von Franz Schubert aufgenommen, den viele Musikliebhaber gar nicht als bedeutenden Symphoniker wahrnehmen, sondern fast ausschließlich als Lied- und Klavierkomponist plus Streichquartett "Der Tod und das Mädchen".

Blomstedt dagegen nimmt den Symphoniker Schubert sehr ernst. Verzichtet auf die ein oder andere schwungvolle Geste, die Bernstein oder Karajan noch mitgegeben hätten, steckt mit seinen Gedanken tief in der Partitur. Seine größte Angst: dass irgendwo ein Ton verloren geht, ein Klang unvollständig bleibt, eine Phrasierung verstümmelt. Wir hören also eine zutiefst seriöse, fast penible Umsetzung von Schuberts Symphonik, die noch mehr vielleicht als seine Klaviermusik seine großen romantischen Fantasien offenbart, die er gleichwohl in der Sprache der Wiener Klassik formuliert. In klar strukturierter Großform und ohne spektakuläre harmonische Brüche. Alles Grobe und Brutalistische ist Schubert fremd, er sucht die musikalische Wirkungskraft in sanfter Dialektik, in Begegnungen unterschiedlicher Klangcharaktere mehr als in schroffen Gegenüberstellungen.

Die gibt es auch, aber seltener, und da wird's dann auch gleich hochdramatisch. Ist oft aber gar nicht so gemeint. Schubert zeichnet da oft imaginäre Figuren, Fabelwesen - Butzemänner, Feen, Elfen. Gerade Letztere machen sich rar, sind schnell entschwunden, wenn man als Dirigent vor allem Pauken und Posaunen im Blick hat und die Streichergruppe nur als Basis für alles andere betrachtet. Dieser Gefahr erliegt Blomstedt nicht, denn sein musikalischer Familiensinn lässt niemanden und nichts zurück. Und so entsteht am Ende doch etwas mehr als eine klingende Studienpartitur, nämlich ein Reigen bunter Geister auf imaginären Waldlichtungen. Und der Komponist Schubert als Klassiker, der sich erst am Ende seines kurzen Lebens vorsichtig der empfindsamen Frühromantik öffnet. Helmut Mauró

Die Reise zu Jerusalem: Wetzlars Gedenkstätte für den wahren "Werther"

Eine winzig kleine Erkerwohnung am Schillerplatz 5 - hier lebte und starb Karl Wilhelm Jerusalem. (Foto: imago stock&people/imago stock&people)

Goethes Werther kennen alle, aber Karl Wilhelm Jerusalem? Vor 250 Jahren hat sich der traurige junge Mann erschossen - in Wetzlar, am Schillerplatz 5, in einer winzig kleinen Erker-Wohnung. Seine Tat am 29. Oktober 1772 inspirierte Goethe zu seinem epochemachenden Roman, doch Jerusalem war nicht Werther. In dem viergeschossigen Fachwerkhaus, das heute ein Museum ist, erhalten die Besucher eine Ahnung, wer dieser 25-Jährige tatsächlich war. Er hatte einen berühmten Vater, und eine steile Karriere stand ihm bevor. Doch Konflikte mit seinem unausstehlichen Vorgesetzten in Wetzlar begannen, und dann soll Jerusalem gegen die verheiratete und wunderschöne Elisabeth Herd "empfindlich" geworden sein - und ihr seine Liebe auf Knien gestanden haben: ein Eklat, der, bereits als Gerücht, zu seiner Entlassung geführt hätte. Jerusalem wusste keinen Ausweg und applizierte sich in der Erkerwohnung einen Schuss mit einer geliehenen Reisepistole, die bis heute dort auf dem Schreibtisch liegt. Ein kurzes, himmeltrauriges Leben, das auf einem Alkovenbett endete und das Goethe mit dem Werther unsterblich machte. Marc Hoch

Laue, laute Abende: Sound im Skulpturengarten

So war es mal, so ähnlich soll es wieder werden: Konzert im Skulpturengarten der Neuen Nationalgalerie, 1972 (Foto: Ludwig Windstosser)

Fast alle lieben den Bau von Mies van der Rohes Neuer Nationalgalerie in Berlin, aber nur Eingeweihte wissen: Die wahre Schauseite liegt eigentlich hinten, besonders dann, wenn im Skulpturengarten etwas los ist. Und was dort mal los war: Bis 1986 gab es da regelmäßig "Jazz in the Garden", die Fotos erinnern an Partys, die man heute eher im Garten des MoMA in New York verorten würde. Die gute Nachricht: Die Tradition lebt wieder auf, nur ohne Beschränkung auf Jazz, als "Sound in the Garden", ab sofort bis September. Diesen Samstag geht es mit der Sängerin Alice Martin los, die sich Älice nennt und sich mit der Malerei von Sascha Wiederholt auseinandersetzen will. Folgetermine versprechen unter anderem "Songs of Gastarbeiter". Und nie ist ja Mies' Bau schöner als an einem lauen, lauten Abend. Peter Richter

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