Eine Schlange begleitet die Protagonistin, flüstert ihr Abfälliges ins Ohr und kriecht sogar in ihren Kopf. Selbstverachtung, Scham und Versagensängste werden auf diese Weise visualisiert - die junge Frau, die von dem Vieh geplagt wird, stammt aus bescheidenen Verhältnissen, "Assitussi" wurde sie in ihrer Jugend schon mal genannt. Mindestens in Teilen dürfen wir die Zeichnerin und Autorin Eva Müller in dieser Figur vermuten. Sie selbst nennt ihre Graphic Novel eine Autofiktion.
Das Thema Klassismus hat damit auch die Comics erreicht. In schwarz-weißen, oft ruppigen, manchmal verführerisch schönen Bildern erzählt Müller von einer Jugend ohne Geld und ohne Bücher, von Billigklamotten mit peinlichen Aufnähern, miesen Jobs und dem Unbehagen in der Gegenwart von Leuten, die immer schon wussten, was ein Entrecôte ist. Es sind solche Details, die den Begriff "unterprivilegiert" mit Erfahrung füllen. Wer das geplante "Bürgergeld" für zu großzügig hält, darf gern in diesem Comic blättern. Immer wieder kommentiert Karl Marx als Übervater das Geschehen - während er Yoga macht im Fitnessstudio oder in einem Schwanenboot sitzt wie Ludwig II.
"Scheiblettenkind" ist nicht so krass (und nicht so komplex) wie etwa die Bücher von Édourd Louis, dafür sind die Figuren und ihre Lebensumstände vertrauter. Die Eltern der Protagonistin etwa sind keine hungernden Proleten, sondern brave Wirtschaftswunderleister, die "nur" verschuldet sind, weil sie gebaut haben. Dass ihre Tochter eine höhere Schule besucht, studiert und schließlich Comic-Künstlerin wird, war nicht vorgesehen. "Scheiblettenkind" erzählt eine Emanzipationsgeschichte. Die Schlange aber, die ihr einflüstert niemals gut genug zu sein, sie ist die Begleiterin der jungen Frau geblieben.