Der Perfekten saß ich mal im Zug gegenüber. Sie war 15, sie hatte schulterlange blonde Haare, rote Wangen und erlesenen Geschmack. Sie trug lässige Klamotten, sie aß kein Fleisch, sondern Sojawürstchen und Obst und Gemüse. Sie überlegte mit ihrer Freundin, welche Ausbildung sie nach der Schule machen sollte. Ich war gebannt von ihrer Anmutung, sie war durchdrungen von Pragmatismus, Nachhaltigkeit und Freundlichkeit. Sie sprach nicht über Jungs, nicht über Partys, schon gar nicht über Drogen. Sondern darüber, was mal aus ihr werden sollte. Hin und wieder reichte die Perfekte ihrem kleinen dicken Bruder Apfelschnitze. Sie war betörend.
Und ich dachte: Hoffentlich werden meine Kinder nie so! So brav, vorhersehbar und steuerbar, so leistungsstark und angepasst. Und später dann, in 20, 30 Jahren: überdreht und erschöpft. So wie wir. Die Frauen von heute.
Frauen, die alles wuppen wollen und sich permanent selbst optimieren. Frauen, die funktionieren. Die performen. Und deren Funktionstüchtigkeit und Overperformance jetzt - mal vorsichtig, mal vehement - kritisiert wird. Beispielsweise von der wütenden jungen Feministin Laurie Penny, die gegen den Neoliberalismus und die Anpassung der Frauen wettert. Vielleicht hat die Autorin einfach nur erkannt, dass man als Frau heute doch nicht immer alles haben kann, alles auf einmal, sofort.
Die Frau von heute jongliert mit 34 Bällen, aber lächelnd
Die Frau von heute saß mir gerade beim Elternabend gegenüber, ich kenne sie schon lange, mit all ihren Vorzügen und Fehlern. Sie strahlt, sie sprüht, sie quasselt rasend schnell, man ist überwältigt. Sie kommt direkt vom Job, sie macht was mit Medien, und trinkt schnell schweren Wein, will aber kein Brot, nein danke, low-carb. Sie lächelt, sie sieht gut aus. Morgen muss sie wie immer früh raus. Um halb sieben steht sie auf, verabschiedet ihre Kinder, die bloß nicht krank werden dürfen, den Großen "schickt" sie jetzt sogar den ganzen Tag in die Schule, bis vier, und hat ein schlechtes Gewissen, so wie sie auch ein schlechtes Gewissen bei dem Kleinen hat, wenn er mittags um halb zwei aus der Schule kommt, weil es dort keinen Hort gibt und sie nicht da ist und er versucht, an Bildschirmen rumzudaddeln. Dann macht sie schnell die Wäsche, läuft schnell eine Runde und um halb neun sitzt sie am Schreibtisch und versucht, sich zu konzentrieren, es plingt, blobbt, Tropfengeräusche. Mails, SMS, Anrufe. Sie bleibt dran, sie jongliert mit 34 Bällen, aber lächelnd.
Mittagessen ist nicht drin. Sie ernährt sich gesund, macht Yoga, hat längst mit dem Rauchen aufgehört, wenn ein Arbeitgeber meckert, sagt sie brav Ja-kein-Problem-ich-mach-das, Sex findet, wenn überhaupt, im Hellen statt, und weil der Mann an ihrer Seite stichelt, der Rotwein am Abend sei als Alkoholismus zu interpretieren, trinkt sie auch Tee. Kräutertee, bio, ist ja klar. Sie kauft ein, kocht, macht Hausaufgaben, bringt die Tests ihrer Kinder durcheinander, sie macht die Wäsche. Vor dem Fernseher schläft sie ein, nach dem "Heute-Journal" liegt sie im Bett.
Sie hat viele Freunde, aber Einladungen selten, sie macht das jetzt nicht mehr, so ein Aufwand und dann der Kater. Sie überlegt, ob sie die Apps runterladen soll, mit denen sie noch effizienter haushalten könnte: mit Gewicht, Geld, Zeit, Kraft. Sie ist diszipliniert, effizient, erfolgreich. Sie ist die Frau von heute.
Nachts kommt sie nicht mehr runter
Der Begriff Selbstoptimierung erregt bei ihr dennoch Würgreize. Sie ist ja nicht dumm. Er klingt, als wäre sie nur "Human Capital" in einer nach Gewinnmaximierung strebenden Wachstumsideologie. Als habe sie kein Mensch, sondern eine Maschine zu sein. Die sich in die Mechanismen des Marktes einklinkt. Würde jemand sagen: Die Marmelade ist noch optimierbar - sie würde lachen. Über den Manager-Jargon. Über sich selbst lacht sie nicht. Sie muss dran bleiben, sie schafft das! Beruf, Kinder, Mann, Haushalt, Freundinnen, Liebhaber, Sport, Termine, abends am Laptop ordert sie sich für den Kick ein Paar Schuhe.
Nachts kommt sie nicht mehr runter. Kurz vor dem Einschlafen und manchmal mitten drin wird sie schlagartig wach. Die Frau bekommt Angst. Und Angst vor der Angst. Die Frau weiß von Experten, die sich mit Erschöpfung und "Anpassungsstörungen" befassen, dass dies ein Alarmsignal ist. Ihre erste Erschöpfung mit depressivem Touch hatte sie mit Mitte 20, davor die Magersucht, die zweite fünf Jahre später. Ihr Rücken schmerzte, sie konnte zwei Jahre kaum stehen, Zellen ihres Körpers veränderten sich ungut, es tickte eine Zeitbombe. Aber weiter, sie war am Start, die Welt stand ihr doch offen. Sie war dreißig, eine vielversprechende junge Frau. Sie bekam Kinder, zwei hintereinander, und arbeitete durch, sie war eine Ich-AG und die hatte keine Elternzeit. Aber einen Mann an ihrer Seite, der ihr all das erlaubte. Sie wollte alles teilen, sie wollte es allen beweisen, ihren Freundinnen, ihrer emanzipierten Mutter, den Männern und vor allem sich selbst: Seht her, geht doch!
Manchmal wurde ihr Ton schrill. Sie selbst hörte ihn nicht. Sie wütete, wenn ihr Mann, ihre Eltern oder ihre Freundin sagten: Wie redest du mit mir, in diesem grässlichen gouvernantenhaften Ton? Sie brüllte: Ihr habt ja keine Ahnung! Ich reiß' mir hier den Arsch auf! Ohne mich würde alles zusammenbrechen! Fasst mich jetzt bloß nicht an! (Und flüsterte: Ich bin so alle.)
Sie sah die anderen. Vier Kita-Erzieherinnen, die über Monate im Burnout verschwanden. Zwei Lehrerinnen, die wegen anhaltender Erschöpfung ein Jahr ausfielen. Ihre Freundin, alleinerziehend, die über Monate jeden Vormittag in eine Klinik eincheckte, um den Nervenzusammenbruch abzuwenden; nachmittags war sie wieder für ihre beiden Mädchen da, morgens rannte sie durch den Park. Die andere, Oberärztin, zwei Kinder, die einmal jedes halbe Jahr Zeit fand auf einen Kaffee, zuletzt zwischen acht und acht Uhr vierzig am Morgen. Und - den Nachbarn, der anhand von vom Arzt verschriebenen Meditationstrainings versuchte, einen Sinn in seiner Arbeit zu finden, er wollte lieber zu Greenpeace, als online Schuhe verkaufen. Den Mann an ihrer Seite, der, wie die meisten Männer, oft ähnlich erschöpft war wie sie. Es sich aber nie eingestehen würde. Und der sich, immerhin, manchmal einfach so hinter seiner Zeitung ausklinkte.