Das Blödeste, was man während einer Ausgangssperre machen kann, ist, sich mit der Ausgangssperre zu beschäftigen.
So sah das zumindest der französische Regisseur Éric Rohmer, und all die Quarantäneintellektuellen, die gerade jetzt glauben, zu Zettel und Stift greifen zu müssen, um die Welt mit ihren tristen Isolationsgeschichten zu penetrieren, sollten sich ein Beispiel an ihm nehmen.
Rohmer, Jahrgang 1920, erlebte den Zweiten Weltkrieg mit voller Wucht. Er war damals in seinen Zwanzigern, eine Sturm-und-Drang-Phase, wollte Künstler werden, zunächst Schriftsteller. Aber während des Krieges über den Krieg schreiben? In einem Interview mit der Filmzeitschrift Revolver erzählte er Jahrzehnte später: "Man hörte auf der Straße die Kugeln pfeifen, und ich saß in meinem Zimmer und war damit beschäftigt, diese Geschichte zu schreiben, die absolut nichts mit dem Krieg zu tun hat. Ich habe mich in dieser Situation gefragt: Was kann man jetzt schreiben? Kann man über das schreiben, was gerade passiert? Und meine Antwort war: Nein. Das ist unmöglich, es fehlt der nötige Abstand. Poet der Gegenwart zu sein, so etwas ist unmöglich."
Allein wegen dieser Aussage ist der einzige Ort, in den man derzeit wirklich dringend einziehen möchte, das Filmuniversum des Éric Rohmer. Denn pssst, bitte nicht der Pharmaindustrie weitersagen, aber zwei, drei Rohmer-Filme - "Pauline am Strand" zum Beispiel oder "Frühlingserzählung", vielleicht auch "Vollmondnächte" - sind wirksamere Antidepressiva als alles, was der Psychiater gegen Lagerkoller verschreiben kann. Das muss man dem Filmkritiker, dessen Leben in Isolation sich, vorsichtig gesagt, eher wenig von seinem Leben in Nichtisolation unterscheidet, jetzt einfach mal glauben.
Das schöne Knie im verführerischsten Winkel knapp über dem Kopf des Begehrenden
In diesem Frühjahr wäre Rohmer, der 2010 starb, 100 Jahre alt geworden. Der Verleih Studiocanal bringt aus diesem Anlass viele seiner schönsten Filme noch mal neu auf DVD, Blu-ray und als Video on Demand heraus. Die physischen Boxen sind sortiert nach den Zyklen, in denen er die Filme gedreht hat: "Moralische Erzählungen", "Komödien und Sprichwörter", "Erzählungen der vier Jahreszeiten". Digital sind die meisten Filme auch einzeln verfügbar, zum Beispiel bei iTunes und Amazon. Wo anfangen? Das ist eigentlich egal, denn auch wenn seine späten Filme eine noch größere Lässigkeit ausstrahlen als die frühen, ist sein Gesamtwerk von einem C'est-la-vie-Charme beseelt, der selbst im existenzialistischen französischen Kino seinesgleichen sucht. Bei Rohmer bekommt man immer, was er verspricht. Nehmen wir zum Beispiel "Claires Knie", 1970, wo allein der aus nur zwei Wörtern bestehende Titel die Inhaltsangabe erledigt. Der Dipomat Jérôme verbringt seine Sommerferien am Lac d'Annecy, steht kurz vor seiner Hochzeit, entwickelt aber unter den gefährlichen Strahlen der französischen Sommersonne das unbändige Verlangen, seine Hand auf das Knie des Mädchens Claire zu legen. Claire, im kurzen, himmelblauen Kleid auf der Leiter, das schöne Knie im verführerischsten Winkel knapp über dem Kopf des Begehrenden - so etwas können auch nur Franzosen so inszenieren, dass es nicht gleich nach Amateurpornografie à la "Schönes Fräulein, brauchen Sie Hilfe mit der Leiter?" aussieht.
Erstaunlicherweise hat ausgerechnet Rohmer, dieser lässigste Chronist menschlicher Obsessionen, über Murnaus "Faust"-Verfilmung promoviert. Während die Deutschen ja den protestantischen Selbstkasteiungsfetisch verinnerlicht haben, dass Affären immer so enden müssen wie die zwischen Gretchen und Dr. Faust, lehrt Rohmer eine deutlich undramatischere, lockere Lebenseinstellung dem Sex gegenüber. Die Bonusperspektive seiner Filme, die selbst große Kollegen wie Truffaut nicht immer hinbekommen haben: Das klassische Objekt des französischen Männerkinos, also das junge Mädchen im kurzen Rock, das Affären mit älteren Männern gegenüber nicht abgeneigt ist, wird bei ihm zum Subjekt. Rohmer erzählt immer ebenbürtig auch aus der Perspektive der Frau. Eine Art betreutes Improvisieren hat er am liebsten betrieben, um seine Figuren zu entwickeln, die Darsteller zu interviewen, sprechen zu lassen, daraus dann, sanft stilisiert, seine Dialoge zu destillieren. Die Menschen sprechen bei ihm tatsächlich wie Menschen, irrational, verworren, widersprüchlich, und jene Idioten, die behaupten, in Rohmer-Filmen werde zu viel gesprochen, sollten sich mal wieder im echten Leben umhören.
Dass die Kulissen seiner Filme ein bisschen öfter als im echten Leben die Atlantikstrände der Normandie, die verwilderten Gärten der Landhäuser des Südens und die verwunschenen Dächer von Paris waren, sollten wir ihm gerade jetzt danken.