Sozialutopie "Die neuen Deutschen":Wie wir unseren Werten bei Zuwanderung treu bleiben

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Selfie mit der Kanzlerin: Offenheit begreifen die Münklers in ihrem Buch als zweiseitige Angelegenheit, die Alteingesessene und Neuankömmlinge betrifft. (Foto: dpa)

Die Flüchtlingsfrage polarisiert - und die Politik weicht drängenden Fragen zur Einwanderung aus. Da kommt das kühl analysierende Buch "Die neuen Deutschen" von Marina und Herfried Münkler gerade recht.

Buchrezension von Andreas Zielcke

Jeder, der sich heute mit dem Thema Flüchtlinge beschäftigt, stößt auf drei Kernfragen: Welche Rolle spielt der humanitäre Aspekt für die Aufnahme von Flüchtlingen? In welchem Maß sind Industriestaaten wie Deutschland aus demografischen Gründen auf Zuwanderung angewiesen? Inwiefern fällt die Frage nationaler oder kultureller Identität ins Gewicht, vor allem bei Zuwanderern aus islamischen Regionen?

Kein Einwanderungskonzept bekommt diese konträren Perspektiven widerspruchsfrei auf die Reihe. Selbst wer alles auf die nur scheinbar rein pragmatische Frage zuspitzt, welche Mengen von Flüchtlingen wir "verkraften" und integrieren können, muss klären, welcher der drei Perspektiven er de facto den Vorrang einräumt.

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Was passiert, wenn bis 2020 tatsächlich 20 Millionen Muslime nach Deutschland drängen? Helfen da nur noch dichte Grenzen, wie oft gefordert wird? Angesehene Chronisten der Migrationsströme halten das für einen Irrweg - gerade wegen der furchteinflößenden Vorhersagen.

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"Wir schaffen das" ist die Parole des humanitären Affekts, der keine Obergrenzen kennt. Der Ruf nach einer Einwanderungspolitik, die den Zustrom nach dem Bedarf des Arbeitsmarkts steuert, aber auch deckelt, gehorcht der zweiten Sichtweise, dem ökonomischen Kalkül. Und für alle, die wegen massenhafter Zuwanderung den Verlust nationaler oder kultureller Identität befürchten, kann die Eingangsschleuse gar nicht eng genug sein.

Wie bei jedem Zielkonflikt zwischen unverträglichen Prioritäten ist auch dieser weder moralphilosophisch noch technokratisch zu lösen. Zu lösen ist er nur politisch.

Bislang allerdings weicht die deutsche Politik der grundsätzlichen Debatte aus, auch wenn alles Drumherumdrücken um das heiße Eisen nicht hilft, die Polarisierung des Landes über die wachsende Zahl von Fremden zu dämpfen. Im Gegenteil, das Verdrängen macht das Eisen nur heißer und die AfD nur größer.

Die Autoren wechseln nicht nur den Blickwinkel, sondern auch den rhetorischen Modus

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Da kommt der über weite Strecken kühl und besonnen analysierende Anstoß zu dieser Debatte von Marina und Herfried Münkler gerade recht. Dass sie ihr Buch unter den Titel "Die neuen Deutschen" stellen, heißt zuallererst, dass dieses Land seinen Werten nur treu bleiben kann, wenn es im Zuge der Immigration auch sein Selbstbild in Bewegung bringt.

Das erinnert an Tomasi di Lampedusas viel zitierte Weisheit im "Leopard" ("Wenn wir wollen, dass alles bleibt, wie es ist, muss sich alles verändern") und trifft auch hier den Punkt. Dass allerdings das Flüchtlingsproblem nur einen Ausschnitt dieser Weisheit abdeckt, weil der Veränderungsdruck auf alles Nationale ohnehin durch Globalisierung, Klimawandel, Europa, Internationalisierung der Kultur, Kosmopolitisierung et cetera unwiderstehlich ist, spart das Buch aus. Migration ist so gesehen nur das ausdrucksstärkste Bewegungsbild des laufenden Selbstwandels aller Nationalstaaten.

Das Buch ist ein Kompositum, dem die unterschiedlichen Handschriften der beiden Autoren anzumerken sind - sie, die Dresdner Literaturwissenschaftlerin, aber auch im schulischen Umgang mit Flüchtlingskindern erfahrene Lehrerin; er, der bekannte Berliner Politikwissenschaftler und Ideenhistoriker.

Die stilistische Flexibilität schadet freilich schon deshalb nicht, weil natürlich auch dieses Buch die drei zentrifugalen Kernfragen nicht auf einen narrativen Nenner bringen kann.

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Darum wechselt es nicht nur den Blickwinkel je nach behandelter Problematik, sondern gelegentlich auch den rhetorischen Modus von akademisch abgeklärter Beschreibung hin zum Plädoyer. Dieser letztere Modus, die moralische Tonart, ist zwar im Buch die Ausnahme. Doch wenn es sich den Fluchtgründen zuwendet und hier exemplarisch den extremen Grausamkeiten, vor denen so viele Flüchtlinge aus Syrien fliehen, ist gegen appellative Folgerungen nichts einzuwenden:

"Bis zum dramatischen Anschwellen der Flüchtlingsströme war in Europa das angestrengte Wegschauen die vorherrschende Reaktion. Man kann darin eine besondere Form von Gleichgültigkeit und Hartherzigkeit sehen. Im Katalog der Laster ist die Hartherzigkeit die kleine Schwester der Grausamkeit . . . Die Verpflichtung, den Flüchtlingen als Opfern von Grausamkeit zu helfen, ist umso größer, je weniger Schritte vorher unternommen wurden, diese Grausamkeiten zu beenden."

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Dass gerade humanitäre (militärische) Interventionen auf Realismus verpflichtet sind, um ungewollte desaströse Folgen wie jene in Libyen zu vermeiden, betonen die Autoren selbst. Realismus verlangt selbstverständlich auch die hiesige Aufnahme von Zuwandernden, die Mord und Totschlag entfliehen. Allerdings weicht auch dieses Buch der Krux aus, dass aus dem Moralgebot, aufnehmen zu sollen, nicht der Schluss folgt, aufnehmen zu können. Immerhin entschärft sich dieses Dilemma zumindest hierzulande, solange die wohlhabende Bundesrepublik trotz der Menge der bisher eintreffenden Bürgerkriegsflüchtlinge nicht wirklich an ihre Kapazitätsgrenzen stößt.

Mag man, wie die Autoren, unterstellen, dass das humanitäre Gebot auf "Not- und Ausnahmesituationen" der Katastrophenflüchtlinge beschränkt ist, so gilt ihre Aufmerksamkeit umso ausführlicher der zweiten Kernfrage, dem Zusammenhang von Immigration, Arbeitsmarkt und Wohlstand. Hier holen sie weit in der Geschichte aus und veranschaulichen besonders am klassischen Stadt-Land-Gefälle, wie urbane und dann industrielle Zentren stets unter zu geringer "biologischer Reproduktion" litten und diesen Mangel durch Zuzug aus agrarischen und weniger entwickelten Zonen ("soziale Reproduktion") auszugleichen pflegten.

Die Prämisse, dass der deutsche Wohlstand und das "gute Leben" nur durch Zuwanderung aufrechtzuerhalten ist, hat es jedoch in mehrfacher Hinsicht in sich. Nicht nur, weil sie auch als Brückenargument für jene gilt, die aus Gründen des vermeintlichen Identitätsschutzes prinzipiell für Abschottung sind, aber ungern die Prosperität des Landes dahinschwinden sehen wollen. Vielmehr auch, weil hier komplexe ökonomische Unterstellungen eingehen: Vertragen sich die akuten Anforderungen des Arbeitsmarkts überhaupt mit den langfristigen Anforderungen des demografisch immer prekärer werdenden Rentensystems?

Besteht der Sog auf externe Arbeitskräfte auch künftig fort trotz unaufhaltsamer Umstellung der Ökonomie auf Automatisierung und Digitalisierung? Um welche hiesigen, nicht exportierbaren Arbeitsplätze geht es bei Immigranten, wenn das unternehmerische Kapital auch in ihre Herkunftsländer wandern kann? Sind das nicht, außer dem Segment der hochbegehrten Facharbeiter, hauptsächlich die unterbezahlten Diener-, Pflege-und saisonalen Aushilfskräfte, die ein neofeudales System zementieren? Und in größerer Perspektive: Was folgt für die Arbeitsmigration, wenn der heutige Wohlstand auf einem ökologischen Auslaufmodell beruht?

Das so dringend benötige Einwanderungsgesetz, um das sich die Politik hartnäckig drückt, müsste anspruchsvoll und flexibel genug sein, um in diesen Problemfeldern reagieren zu können. Dem Buch, das keine wirtschaftswissenschaftliche Studie ist, kann man nicht vorwerfen, dass es die Fragen, die der "ökonomische Imperativ" für die Immigration und für die wirtschaftliche und soziale Struktur aufwirft, allenfalls ankratzen kann. Einen Punkt benennen sie wiederholt, nämlich die Vorbehalte, die seit je Gewerkschaften gegen zuwandernde Arbeitskräfte hegen.

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Das Flüchtlingslager an der griechisch-mazedonischen Grenze wird in diesen Stunden geräumt. Auch viele Kinder lebten dort unter desaströsen Bedingungen - einige wurden sogar dort geboren.

Sehr viel ertragreicher sind die soziologischen Exkurse im Buch. Auch sie blenden in die Geschichte zurück und geben dem aktuellen Flüchtlingsproblem, das ja nicht nur hier, sondern in allen Ländern Hysterien auslöst, eine geradezu entspannende historische Tiefendimension. Im Zentrum steht die Betrachtung der Wechselwirkung zwischen "Grenze" und grenzüberschreitenden (Bevölkerungs-)"Strömen", also des ewigen Widerspiels zwischen stationärer und fluider, zwischen heimatverbundener und nomadischer Gesellschaft.

Dabei fällt nicht unter den Tisch, dass den meist erzwungenen nomadischen Flüchtlingsexistenzen heute eine internationale Elite mit ihrem ganz eigenen, freiwilligen nomadischen Dasein gegenübersteht, in ständiger Bewegung zwischen den Machtzentren dieser Welt. Man hätte diesen "neoliberalen Nomadismus" auch als Beispiel einer problematischen Parallelgesellschaft erfassen können. Das tun die beiden Autoren zwar nicht, aber ihre Untersuchung der Parallelgesellschaften gehört mit zum Besten und Differenziertesten, was man in letzter Zeit hierzu lesen kann.

"Der Identitätsmarker der Deutschen muss das Bekenntnis zum Grundgesetz sein"

Herfried Münkler, Marina Münkler: Die neuen Deutschen. Ein Land vor seiner Zukunft. Rowohlt Berlin 2016, 316 Seiten, 19,95 Euro. E-Book: 16,99 Euro (Foto: rowohlt)

Was aber hat es nun mit den "neuen Deutschen" auf sich? Die Autoren sind klug genug, sich erst gar nicht auf eine Definition des "Deutschen" einzulassen. Das Neue, soweit es denn tatsächlich erst noch neu zu schaffen ist, läuft auf zwei Maximen hinaus: Zum einen muss das Land den Flüchtlingen, ob aus Armut oder Kriegsnot hierhergekommen, als offene Gesellschaft begegnen. Das ist die Absage an alle Propheten einer ethnischen oder sonst wie "identitären" Nation. Dass die Offenheit eine zweiseitige Angelegenheit ist, die Alteingesessene und Neuankömmlinge betrifft, ist die unausweichliche, aber im Falle des Gelingens produktive Dialektik, an der jede Integration in Deutschland auszurichten ist. Offenheit ist nicht gleichzusetzen mit offener Grenze - nicht zuletzt deshalb, weil keine kulturellen Faktoren importiert werden dürfen, die (wie die Unterdrückung von Frauen) eben dieser Freiheit und Offenheit widersprechen.

Die andere, abschließende Maxime lautet: "Der entscheidende Identitätsmarker der Deutschen soll und muss das Bekenntnis zum Grundgesetz sein." Gemeint ist hier nicht nur, dass sich jeder, auch jeder Alteingesessene, an das gesetzliche Regelwerk des Landes zu halten hat; gemeint ist auch nicht nur ein politisch verstandener Verfassungspatriotismus.

Gemeint ist eine normativ aufgeladene "Identitätszuschreibung", ein rechtliches, politisches und soziales Anforderungsprofil, das als einziges geeignet ist, Einheimische und Neue freiheitlich zu integrieren: das Grundgesetz als Norm- und Handlungsmodell. Mehr als Stichworte liefert das Buch dafür nicht, so lässt es nur ahnen, wohin die Reise führen muss. Bei allem Zweckoptimismus macht es aber klar: Legen sich nicht beide Seiten ins Zeug, kann die Integration jederzeit scheitern.

© SZ vom 29.08.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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