Der seltsame Refrain in dem seltsamen Song der Toten Hosen , die als Band in der zumindest nicht übermäßig untot erscheinenden, aber doch sehr netten Stadt Düsseldorf beheimatet ist, geht so: "Gebt die Bahn frei / Geht aus dem Weg / Wenn ihr helfen wollt / Sprecht ein Gebet". Wer weiß, vielleicht sollte man den Song "Achterbahn" einfach mal ernst nehmen. Nicht der Achterbahn zuliebe, aber doch im Sinne der Bahn und einer Stadt, die stadtplanerisch vermutlich eher vital als hosentot sein möchte.
Daher sollten Stadt und Bahn am Rhein nun die Bahn freigeben und sozusagen aus dem Weg gehen. Aber statt ins Gebet sollten sich die Ämter in einen spektakulären Plan vertiefen. Es geht um die tendenziell utopische, möglicherweise aber auch rational begründete Idee zur kilometerlangen Überbauung einer Bahnstrecke in Düsseldorf. Wobei man das, was die Planersprache so dröge Überbauung nennt, auch als Magie begreifen kann.
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Das Ganze sieht tatsächlich aus wie ein Zaubertrick: Dort, wo sich in Düsseldorf bis heute ein unansehnlich eiterhaft entstellter Gleisbereich samt einer Randvegetation, die man nur als infrastrukturelle Schambehaarung interpretieren kann, wie eine schwärende Wunde durch die Stadt zieht, könnte schon bald auf heilsame Weise ein urban einladender Stadtteil entstehen. Voller Wohn-, Büro- und Gewerbemöglichkeiten. Voller Grün und kurzer Wege. Voller Aufenthaltsqualität, Energieeffizienz und architektonischer Ambition. Voller Zukunftslust. Abrakadabra.
Der Plan, vorerst ist es eine suggestiv formulierte Ideenskizze, stammt vom Düsseldorfer Architekturbüro RKW+ (Rhode Kellermann Wawrowsky). Beziehungsweise aus der dortigen Abteilung der jungen Wilden. Seit einiger Zeit betreiben die Wilden unter dem Begriff "design.lab" eine Art Denkfabrik stadträumlicher und architektonischer Planung. In den nächsten Tagen werden die Ingenieure und Statiker über das in der Denkfabrik Erdachte befinden. Es geht darum, ob aus den Gedanken Taten werden können, ob also der Entwurf konstruktiv realisierbar erscheint.
Es geht um 5000 Wohnungen, die im Jahr 2032 auch als olympisches Dorf dienen können
Konkret geht es um etwa 5000 innerstädtische Wohnungen. "Die Nord-Süd-Bahntrasse ließe sich mit einer grünen Wohnbrücke überbauen", sagt Natalie Bräuninger, die Sprecherin von RKW+. "Der durch die Gleise bedingte aufgetrennte ,Riss' in der Stadt wird durch eine städtebauliche ,Naht' geschlossen, die benachbarten Stadtteile rücken zusammen, Qualitäten werden geschaffen und so eine Durchwegung zwischen dem Rheinufer und den Stadtteilen erlebbar gemacht."
Bemerkenswert an dieser kreativen Form der Stadtreparatur ist neben dem Flächenrecycling, das zugleich der Wohnungsnot entgegentritt, vor allem auch das Potenzial als friedensstiftende Maßnahme zur Aussöhnung zwischen den Antagonisten Stadtraum und Infrastruktur. Denn der Lebensraum der Stadt befindet sich mittlerweile in einem Dauerkonflikt mit dem städtischen Mobilitätsraum. Das war nicht immer so.
"Die Stadt", so heißt eine Kurzgeschichte von Hermann Hesse aus dem Jahr 1910. Tatsächlich ist das, was man Märchen oder Fabel nennen müsste, eine Kurzgeschichte der Stadt im Wortsinn. Auf wenigen Seiten entwirft Hesse eine rasante Entwicklungsgeschichte der Stadt, die zugleich das Fundament aller städtischen Zivilisation beschreibt. Nämlich die Infrastruktur, also das Wege- und Verkehrsnetz der Menschen und Dinge als eigentliches Betriebssystem von Handel und Wandel. Gemeint sind Flüsse, Straßen und Schienen.
Vielleicht sollte man Bahnvorstand Ronald Pofalla mal "Die Stadt" als Lektüre empfehlen
Paradox daran: Der Mensch ist ein nomadisches Wesen. Erst der Wandel vom Jäger und Sammler zur Sesshaftigkeit markiert den Beginn der Stadtgeschichte, wobei auch die Städte nur dort entstehen, wo sich erst Furten, später die Schienen kreuzen. So wird auch die Stadt als Raumabdruck der Immobilität und der Sesshaftigkeit zur Chiffre der Mobilität. Erst kommt der Bahnhof, dann folgt die Stadt.
Das ist heute nicht anders: Wenn man einem Haufen herumschwirrender Hipster auf elektrifizierten Kinderrollern begegnet, dazu den Radlern, Trambahn-, U-Bahn- und S-Bahnfahrern, überdies dem Parksuchverkehr und auch jenen SUVs, die sich in der Einfahrt zum Parkhaus mit ihren ausladenden Blechhüften verkeilt haben; wenn man die Hinweisschilder zu Bahnhof und Flughafen erblickt und von den Träumen in den Rathäusern hört, dem Verkehrsinfarkt durch den Bypass futuristischer Gondelkonstruktionen zu begegnen, kann man sicher sein, dass man sich in einer größeren Stadt und somit mitten im Mobilitätsfuror der Gegenwart befindet.
In der Urbs begegnen sich die Stein, Stahl und Glas gewordene Immobilität der Häuser und die Mobilitätsverheißungen diverser Verkehrssysteme auf eine zwar faszinierende, aber auch eher chaotisch überbordende als klug verzahnte Weise.
"Die Stadt" ist somit auch ein Märchen, das man insbesondere Bahnvorstand Ronald Pofalla ob der immer lauter werdenden Kritik am deutschen Schienenwesen, das manchen als Unwesen erscheint, zumal in den stressbedrängten Lebenswelten der Städte, als friedensstiftende Gutenachtgeschichte vorlesen könnte.
Hesse schreibt: ",Es geht vorwärts!' rief der Ingenieur, als auf der gestern neugelegten Schienenstrecke schon der zweite Eisenbahnzug voll Menschen, Kohlen, Werkzeugen und Lebensmitteln ankam. Die Prärie glühte leise im gelben Sonnenlicht, blaudunstig stand am Horizont das hohe Waldgebirge." Mit dem dynamisch auftrumpfenden Begriff "vorwärts" wurde die Bahn lange nicht mehr in Verbindung gebracht. Mit Prärie schon eher.
An die Stelle der poetologisch-urbanistischen Überhöhung Hesses, wo Schienen und Straßen die Zukunft verheißen, ist eine skeptische Ernüchterung getreten. Die stets überforderte Infrastruktur der zunehmend verdichteten Städte wird heute eher als Belastung gedeutet.
Überbaut werden Gleise auch in Köln und Paris. Nur München schläft mal wieder
Mit Bahnhöfen (Stuttgart 21), Brücken (Waldschlößchenbrücke in Dresden), Tunneln (zweite Stammstrecke in München), Flughäfen (Berlin) oder Verkehrsschneisen (überall) ist heute eher die Wut als der Mut der Bürger zu wecken. Zu schweigen von Optimismus und Zuversicht.
Wo immer möglich wenden sich mittlerweile die Bewohner der Städte von den zu breiten Ausfallstraßen und den zu lauten Gleisarealen ab. Schiene und Straße: Einst gehörten sie zum Stolz der Stadt. Sie waren Garanten für den Anschluss an die Welt. Heute werden die Infrastrukturen, die eigentlich nichts von ihrer Bedeutung eingebüßt haben, bestenfalls in Kauf genommen. Und schlimmstenfalls werden sie mit den Mitteln aus dem Arsenal der Trillerpfeifendemokratie bekämpft.
In dieser Situation, die man auch verfahren nennen darf, könnte sich der kein bisschen verrückte Vorschlag von RKW+ als Friedensinitiative erweisen. Dass sich die Realisierung, die laut Bräuninger "auch als mögliche Antwort zur Olympia-Bewerbung ,Rhein-Ruhr-City' gesehen werden kann, also zunächst auch als olympisches Dorf für das Jahr 2032 denkbar ist, nicht ganz so leicht wie in den Renderings erweist, liegt jedoch auf der Hand.
In Köln, wo derzeit das Bauvorhaben "Clarenbachplatz" realisiert wird - auf einer Länge von 160 Metern wird dort die Gleisanlage mit Wohn- und Geschäftsräumen überbaut -, weiß man jedenfalls um die technischen Herausforderungen solcher Projekte: Gebäudestatik, Brandschutz, Schallschutz, Vibrationsschutz ... von Köln ist zu lernen.
In München, wo ein Teil der Stadtautobahn Mittlerer Ring überbaut werden könnte, sind die Ideen leider längst wieder in den Schubladen der Mutlosigkeit verschwunden. Aber so visionsarm und uninspiriert wie an der Isar muss man ja nicht sein.
In Berlin leben seit den Siebzigerjahren 3400 Menschen in 1500 Wohnungen über der Autobahn. Das Ensemble steht mittlerweile sogar unter Denkmalschutz. Und in Paris werden seit Jahren die Gleisanlagen in Clichy-Batignolles überformt: Hier entsteht beispielsweise ein Ökopark. Die dazugehörigen Wohnbauten sollen noch in diesem Jahr vollendet werden.