Dokumentarfilm:"Stört es dich nicht, dass ich erst zwölf bin?"

Lesezeit: 3 min

Schlangengrube hinter dem Schirm: Darstellerin Tereza Těžká beim Chatten im Kinderzimmer-Set von "Gefangen im Netz". (Foto: Milan Jaroš 2020/Hypermarket Film/Filmwelt)

Erwachsene Schauspielerinnen geben sich in sozialen Netzwerken als Kinder aus und werden von zahllosen Männern sexuell belästigt: "Gefangen im Netz" ist ein schockierendes Film-Experiment - mit fragwürdigen Mitteln.

Von Martina Knoben

Es klingelt, immer und immer wieder. Männer schreiben ein paar nette, unverbindliche Zeilen, dann kommen sie im Videochat schnell zur Sache. Sie zeigen ihren Penis, viele onanieren vor der Kamera. "Stört es dich nicht, dass ich erst zwölf bin?", fragen die Mädchen. "Nein, wieso sollte es?" - "Zwölf ist doch ein schönes Alter."

"Gefangen im Netz" ist zutiefst verstörend, ein Blick in Abgründe, die man vielleicht vermutet hatte, sich so aber doch nicht vorstellen konnte. Die Doku ist ein Experiment zum Thema "Cybergrooming", für das die tschechischen Filmemacher Barbora Chalupová und Vít Klusák drei volljährige, kindlich aussehende Schauspielerinnen gecastet und für sie in sozialen Netzwerken Fake-Profile angelegt haben, in denen sie sich als zwölfjährige Mädchen ausgeben. In einer Studiohalle bauen sie den "Mädchen" Kinderzimmer. Nun sitzen diese vor Laptops und warten - aber nicht lange. Kaum sind die falschen Profile online, klingelt es auch schon. Als hätten die Männer darauf gewartet.

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In den zehn Tagen, in denen gedreht wurde, kontaktierten 2458 Männer die drei Schauspielerinnen, fast alle mit sexuellen Absichten. Das Klingeln, mit dem sich Videoanrufe ankündigen, klingt bald nur noch bedrohlich. Die Kamera hält drauf, auf die Mädchen und die Bildschirme, verfolgt quälend ausführlich, wie die Männer ihre (verpixelten) Geschlechtsteile zeigen, den vermeintlichen Kindern Links zu Pornoseiten schicken, ihnen Geld anbieten, damit diese sich vor der Kamera ausziehen; wie einer der Männer (von den Filmemachern gefakte) Nacktbilder eines Mädchens ins Netz stellt und das vermeintliche Kind damit erpresst. Am Ende übergaben die Filmemacher das gedrehte Material den tschechischen Strafverfolgungsbehörden, es wurden Ermittlungen eingeleitet.

Die Aufdeckung von Missbrauchsfällen wie in Lügde oder Bergisch Gladbach hat die Aufmerksamkeit für sexuelle Gewalt an Kindern verstärkt. Die Gefahren im Internet aber werden leicht übersehen, weil Jugendliche sich zurückziehen und Eltern nichts mitkriegen. Man möchte "Gefangen im Netz", von dem es auch eine um explizite Stellen gekürzte Schulfassung gibt, allen Pädagogen, Eltern und Jugendlichen am liebsten ans Herz legen, drastischer und deutlicher kann eine Warnung vor der Schlangengrube im Netz kaum sein. Man würde den Film wirklich gern empfehlen. Wenn er nicht selbst so fragwürdig wäre.

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Eine der jungen Schauspielerinnen ging nach den Dreharbeiten in Therapie

Schon das Casting der zwar volljährigen, aber sehr jungen Darstellerinnen hat etwas Abstoßendes. Von den Frauen, die sich (wie von den Regisseuren verlangt: in Kinderkleidung) bewerben, haben die meisten selbst sexuelle Belästigung im Netz erlebt, eine der Gecasteten gehört dazu. Während der Dreharbeiten sieht man immer wieder die Verstörung in ihrem Gesicht, wenn sich die womöglich traumatische Erfahrung ihrer Kindheit wiederholt. Zwar haben die Filmemacher psychologische Betreuung, außerdem eine Sexologin und einen Anwalt zu den Dreharbeiten hinzugezogen, und haben die jungen Frauen die Bedingungen der Chats weitgehend unter Kontrolle. Trotzdem erzählt eine der Frauen, dass sie an einem Punkt des Films "in totale Verzweiflung" gefallen sei: "Ich hatte das Gefühl, dass alle Männer Kinderschänder sind und alle Kinder missbraucht werden." Eine der jungen Frauen geht nach den Dreharbeiten in Therapie.

Im Studio für "Gefangen im Netz" wurden die Kinderzimmer der angeblich Zwölfjährigen mit Originalrequisiten der Darstellerinnen nachgebaut. (Foto: Milan Jaroš 2020/Hypermarket Film/Filmwelt)

Rechtfertigt der Film diese Belastung? Es wirkt ein wenig zynisch, dass die Regisseure die Straftaten, die sie dokumentieren, mit Fake-Accounts und gefakten Nacktbildern in gewisser Weise provozieren. Und ist ihr Film überhaupt so aufklärerisch, wie er vorgibt? Wie es den jungen Frauen bei den Dreharbeiten geht, erfährt man darin kaum, das lässt sich nur im Presseheft nachlesen. Ebenso wenig werden die Motive der Männer analysiert, die zum größeren Teil nicht pädophil sind. Und es fehlen Hinweise, wie Eltern oder Pädagogen Kindern helfen können, wenn sie Missbrauch im Netz vermuten. Stattdessen zeigen die Regisseure immer weitere Chats zwischen den sich naiv gebenden Mädchen und den Männern, deren Gesichter verpixelt zu Monsterfratzen mit gierigen Augen und Mündern mit Reißzähnen werden. Und im Gesicht des Regisseurs, das die Kamera immer wieder in den Blick nimmt, meint man neben dem Erschrecken über die Scham- und Skrupellosigkeit der Belästiger auch Jagdfieber zu erkennen. Das Kino ist ein voyeuristisches Medium, auf eine fiese Weise befriedigt "Gefangen im Netz" auch diese Schau-Lust. Der pädagogischen Absicht des Films steht dieser Trash-TV-Grusel aber nur im Weg.

V Síti, Tschechien 2020 - Regie: Barbora Chalupová, Vít Klusák. Kamera: Adam Kruliš. Schnitt: Vít Klusák. Mit: Tereza Těžká, Anežka Pithartová, Sabina Dlouhá. Verleih: Filmwelt, 100/67 (Schulfassung) Minuten.

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