Seit ein paar Tagen ist in diversen Medien eine Debatte zu verfolgen, ob es bei der Planung der Documenta 15 in Kassel antisemitische Tendenzen im Programm gibt. Ausgelöst wurde die Diskussion durch den Blogbeitrag der kleinen Kasseler Initiative "Bündnis gegen Antisemitismus". Sie wirft der indonesischen Kuratorengruppe Ruangrupa, die die kommende Ausgabe des Kunstfestivals verantwortet, vor, anti-zionistische Vorurteile zu bedienen. In einem anonym verfassten Text werden zahlreiche Hinweise auf Künstler und Mitarbeiter genannt, die angeblich die Existenz Israels in Frage stellen sollen und sich antisemitisch geäußert hätten. Am Montagabend hat sich der Documenta-Aufsichtsrat mit Kulturstaatsministerin Claudia Roth zu den Vorwürfen beraten. Der Kassler Oberbürgermeister verteidigte dabei die Anschuldigungen gegen Ruangrupa.
Begründet wird die kapitale Anklage mit eher zweifelhaften Hinweisen. Es gebe Documenta-Künstler, heißt es etwa, die in einem Kulturzentrum in Ramallah arbeiten, das nach einem seit 70 Jahren toten arabischen Nationalisten benannt ist, der Nazi-Sympathisant war. Es wird auf den literarischen Text eines Künstlers verwiesen, den die Autorengruppe des Blogs fälschlich für einen Tatsachenbericht hielt. In der Documenta-Mitarbeit von zwei Personen, die 2020 den kritischen Einwand "Wir können nur ändern, was wir konfrontieren" unterschrieben haben, wird ein weiterer Beweis gesehen. In dem Schreiben kritisieren Hunderte Intellektuelle von Klaus Staeck bis Monica Bonvicini die Beschlussfassung des Bundestags, jede Unterstützung für die Israel-Boykott-Bewegung BDS ("Boycott, Divestment, Sanctions") pauschal als antisemitisch zu verurteilen und im Verdachtsfall öffentliche Gelder zu sperren.
Den Kassler Blog-Beitrag popularisierte der Journalist Thomas E. Schmidt anschließend als eigenen Kommentar in der Zeit und forderte darin das Einschreiten von Claudia Roth. Außerdem schrieb Schmidt, dass das "schlingernde Kunst-Heiligtum" Documenta mit der 15. Ausgabe eingestellt werden könne. Begründung: Die Documenta habe mit Werner Haftmann schon eine Nazi-belastete Gründungsfigur besessen, und außerdem seien am wichtigsten Documenta-Künstler, Joseph Beuys, "braune weltanschauliche Spuren" sichtbar geworden.
Der Kassler Blog hat einen deutlich anti-islamischen Grundton
Nun ist die Kritik an Künstlern, weil sie sich mit ehemaligen Nazi-Sympathisanten beschäftigen, in Deutschland schon mal ausgestorben gewesen. Niemand hat je gefordert, die Berliner Volksbühne zu schließen, weil Frank Castorf Texte von Antisemiten oder braunen Systemfreunden wie Curzio Malaparte oder Louis-Ferdinand Céline inszenierte. Es ist eine Notwendigkeit für komplexe und freie Kunst, sich auch mit zwiespältigen Gedankenwegen zu befassen - und ein zentraler Bestandsgrund für Kultur, die nicht Propagandazwecken dienen will.
Ruangrupa weisen jede antisemitische Idee von sich. Bei einer internationalen Kunstausstellung wie der Documenta, die es sich traditionell zur Aufgabe macht, kontroverse Themen in unterschiedlichen künstlerischen Perspektiven verständlich zu machen, gehört das Einbeziehen von Positionen, die zu Widerspruch reizen, allerdings zum Lebenselixier.
Zudem hat der Kassler Blog einen deutlich anti-islamischen Grundton. Die mit degradierendem Vokabular durchzogenen Beiträge der Seite vertrauen mehr auf Wortkeulen wie "Antisemitismus", als auf verständnisvolles Nachfragen.
Das Programm zu Themen wie Kolonialismus, Klimagerechtigkeit und Wachstumsfolgen, das Ruangrupa für Kassel entwickelt haben, vermisst dagegen genau diese fragwürdigen Schablonen moralischer Schlagworte, mit denen sie hier konfrontiert werden. Das garantiert nicht, dass die Documenta 15 eine tolle Ausstellung wird. Aber würde sie mit den pauschalisierenden Denkweisen ihrer Kritiker gestaltet, wäre das wohl der Tod der Schau.