"Die Moskauer Prozesse" im Kino:Stillstand in den Köpfen

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Rebellen und Tugendwächter: Katja Samuzewitsch (links) von Pussy Riot in Milo Raus nachgestelltem Prozess. (Foto: RealFiction)

Kirche contra Pussy Riot: Der Schweizer Theatermacher Milo Rau ließ religionskritische Künstler aus Russland und Vertreter der nationalen Orthodoxie umstrittene Gerichtsverfahren nachspielen. Sein Dokumentarfilm "Die Moskauer Prozesse" zeigt, wie tief die Gräben zwischen Kunst und Religion in dem Land sind.

Von Martina Knoben

Dass die Menschen in diesem Film überhaupt miteinander reden, ist eine kleine Sensation. Tiefe Gräben ziehen sich durch die russische Gesellschaft - durch ein Land, das der Künstler Dmitri Gutow als Land der Extreme beschreibt: "40 Grad plus im Sommer, 40 Grad minus im Winter, dazwischen gibt es nichts. "

Für seine "Moskauer Prozesse", ein Dokumentar-Theaterprojekt im Moskauer Sacharow-Zentrum, das im vergangenen Jahr international Aufsehen erregte, hat der Schweizer Theater- und Filmemacher Milo Rau Vertreter feindlicher Lager auf eine Bühne und zum Dialog gebracht: auf der einen Seite Künstler, die mit religionskritischen Arbeiten die russische Öffentlichkeit provozierten, auf der anderen Seite Vertreter des nationalistisch-orthodoxen Russland, die solche Kunst am liebsten verboten und ihre Macher im Gefängnis sähen.

Drei Fälle rollt Rau noch einmal auf, indem er sie nachspielen lässt in Kulissen, die einen Gerichtssaal simulieren. Der spektakulärste ist der Fall der Band Pussy Riot, die im Februar 2012 mit Strumpfmasken verkleidet in der Moskauer Erlöser-Kathedrale 41 Sekunden lang Punk spielte. Dafür wurden zwei der Musikerinnen zu je zwei Jahren Gefängnis verurteilt - ein Urteil, das im Westen Entsetzen und Unverständnis auslöste.

Raus Gerichts-Dokudrama folgt keinem vorgefertigten Drehbuch, das ist das Interessante daran. Menschen, die in den Konflikt involviert sind oder eine dezidierte Haltung dazu haben (darunter auch ein Band-Mitglied von Pussy Riot), tragen ihre Argumente, auch Beleidigungen und sogar Drohungen vor als Ankläger, Verteidiger oder Zeugen. Die Geschworenen, die schließlich über den Ausgang der Verfahren entscheiden, sind Durchschnittsbürger, ein Querschnitt der russischen Bevölkerung.

Warnung vor einem russisch-orthodoxen Gottesstaat

Indem Rau drei Fälle verhandelt, zieht er eine Linie, die bis ins Jahr 2003 zurückführt, als die religionskritische Ausstellung "Vorsicht! Religion" von Hooligans gestürmt wurde, die viele ausgestellte Kunstwerke zerstörten. Die russische Justiz verfolgte jedoch nicht die Vandalen, sondern die Ausstellungsmacher, die zu Geldstrafen verurteilt wurden.

Der dritte Prozess verhandelt den Fall der Ausstellung "Verbotene Kunst" von 2007. "Mit diesen drei Prozessen endete das demokratische Russland", kommentiert Rau und warnt mit seinem Film vor der Allianz von Staat und Kirche, einem russisch-orthodoxen Gottesstaat.

So eindeutig die Haltung des Filmemachers ist, lässt er die Traditionalisten ausführlich zu Wort kommen. Etwa den Journalisten Maxim Schewtschenko, der in den Prozessen als Ankläger fungiert und in einem der Gespräche, die Raus "Prozesse" begleiten, erklärt, dass die Aggression von der neoliberalen Weltanschauung ausgehe.

Andere sprechen gar von einem Liberal-Faschismus oder ziehen den Vergleich zu Stalins Antireligionspolitik - die Ängste der Russen wurzeln tief, sind historisch vielleicht sogar nachvollziehbar. Für westliche Zuschauer, die über Russland oft einfach nur den Kopf schütteln, sind diese Aussagen äußerst aufschlussreich, machen sie doch mit Denk- und Argumentationsweisen vertraut, die uns fremd sind, sich in Russland jedoch als sehr wirkungsvoll erwiesen haben, wie der Ausgang der realen Prozesse gegen religionskritische Künstler und Ausstellungsmacher belegt.

Kurz verbündet

So tief sind die Gräben zwischen Kunst und Religion, dass auch über den Umweg des Spiels kaum ein echtes Gespräch in Gang kommt. Zwar tragen Vertreter beider Seite ihre Argumente vor - aber es ist wie in einer zerrütteten Ehe, wenn "miteinander reden" bedeutet, Monologe zu führen, die dem anderen seine Vergehen vor Augen führen sollen.

Die Kontrahenten finden kurz zusammen, als die Prozesse von außen, durch die russischen Behörden und von Einheiten der Kosaken, unterbrochen werden. Da verbündet man sich, weil jeder glaubt, im Recht zu sein, sich keiner stören lassen will bei seiner Überzeugungsarbeit. Dann ist die Allianz aber auch schon wieder beendet.

Ob sich dennoch etwas bewegt hat in den Köpfen der Teilnehmer, konnte Rau nicht mehr überprüfen: Als er im Herbst 2013 noch einmal nach Russland fahren will, verweigert man dem Schweizer Regisseur die Einreise.

Die Moskauer Prozesse , D 2013 - Regie, Buch: Milo Rau. Kamera: Markus Tomsche. Schnitt: Lena Rem. Verleih: Real Fiction. 86 Minuten.

© SZ vom 21.03.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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