"Das Wunder von Bern" als Musical:Deutschland singt im Endspiel

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In Hamburg feiert das Musical "Das Wunder von Bern" Premiere: Der Schauspieler Dominik Hees als Helmut Rahn und weitere Mitglieder des Ensembles bei einem Fototermin. (Foto: dpa)

In Hamburg kommt Sönke Wortmanns Film "Das Wunder von Bern" als Musical auf die Bühne. Zwischen rauchenden Ruhrpott-Schloten und Alpen-Schick, Revier-Schlagern und Rock 'n' Roll gelingt Gil Mehmert eine anrührende, lustige Inszenierung des Fußball-Epos. Nur Wikipedia sollte lieber draußen bleiben.

Von Till Briegleb

Die Süddeutsche hat einen "klasse Sportteil". Das sagt der "Boss". Und der muss es wissen, schließlich erzielt er 1954 das entscheidende 3:2 gegen Ungarn beim WM-Finale in Bern. Zwar stammt Helmut Rahn, der "Boss", aus Essen, wo Fußballergebnisse noch durch Brieftauben übermittelt wurden - jedenfalls, wenn man das Musical-Drehbuch für "Das Wunder von Bern" für gut recherchiert halten will. Aber der Ruhrpott-Charmeur mit Bierfahne ist schon so weit Medienprofi, dass er ahnt: Ist man nett zu Journalisten - und macht nicht zu viel Eindruck auf ihre Frauen -, dann schreiben die besser über einen. Das wirkt auch bei Paul Ackermann von der Zeitung mit dem klasse Sportteil, der den Boss im Hopfen-Koma vorfindet. Er verkneift sich eine Skandalstory, die dieser Vorfall dem ehrgeizigen SZ-Reporter geboten hätte.

So musicaltauglich ist also der Alltag der Nachrichtenbeschaffung. Zumindest der von 1954, als junge Sportreporter in Schweizer Luxussuiten schliefen, von bezaubernd singenden Ehefrauen in bunter Mode bei der Arbeit begleitet wurden, und Spiele mit sieben Toren und mehr für eine deutsche Nationalmannschaft eher die Regel waren. Aber man weiß ja: Musicals sind keine Dokumentarfilme. Das gilt zweifellos auch für jene Adaption von Sönke Wortmanns Erfolgsfilm von 2003, für die der holländischen Unterhaltungskonzern Stage-Entertainment im Hafen von Hamburg ein neues Theater gebaut hat. Bei der Premiere der dreistündigen Fußball-Operette "Das Wunder von Bern" sollte Wikipedia lieber draußen bleiben.

Denn für ein musikbasiertes Unterhaltungskonzept macht es Sinn, den Rebell Bruno Lubanski in einer Rock'n'Roll-Band spielen zu lassen, während seine Schwester im Petticoat tanzt. "Rock Around the Clock" von Bill Haley hat aber leider erst 1955 diese Jugendbewegung wachgeküsst. Ebenfalls mag es am Elbufer gegenüber von St. Pauli nicht so irritierend wirken, dass eine ältere Transsexuelle im Pailettenkittel die Hotelflure scheuert und dabei singt: "Seid doch nicht so deutsch!" Aber in Spiez 1954? Und ein tragbares Transistorradio, mit dem der 12-jährige Matthias Lubanski das Halbfinale Deutschland gegen Österreich verfolgt, weil er Hausarrest hat, wurde erstmals auf der Industriemesse in Hannover 1957 vorgestellt.

Unkitschig und unpeinlich

Aber der Zweck heiligt die Mittel, das ist die Verabredung mit dem Musicalpublikum. Und um zu lachen, zu staunen, ergriffen zu werden und ab und zu ein Tränchen der Rührung aus den Augenwinkeln zu kratzen, besitzt "Das Wunder von Bern" die geeigneten Mittel. Sönke Wortmanns Geschichte vom Spätheimkehrer Richard Lubanski, der nach zwölf Jahren Krieg und Lagerhaft in Russland das Leben im neuen Deutschland nicht begreift, und von seinem Sohn Matthias, der sich Helmut Rahn als Ersatzvater gesucht hat und in der Kirche Kerzen für Rot-Weiss-Essen anzündet, hat Regisseur Gil Mehmert unkitschig und unpeinlich in einen Rahmen übertragen, wo bei Gelegenheit eben auch Pierrots und Flamencotänzerinnen aus den Kulissen springen oder die ungarische Nationalmannschaft Fußballballett vorführt.

Dem ewigen Vorwurf an das Genre, nur geistige Flachware für ein dankbares Touristenpublikum zu produzieren, um mit einer einzigen Inszenierung möglichst zwei Millionen Besucher pro Jahr zu generieren, stemmt sich "Das Wunder von Bern" erstaunlich tapfer entgegen. Sicherlich erreichen echte sozial-politische Konflikte und persönliche Traumata, wie sie die deutsche Nachkriegszeit geprägt haben, in gesungener Form nicht ganz die Lebenswahrheit von Tatsachenromanen. Aber die "Cast", wie es beim Musical heißt, verkörpert Schmerz, Ängste und Verletzungen doch erstaunlich unprätentiös.

Zwischen rauchenden Revier-Schloten und heiler Alpenwelt: Die elf Freunde und Freundinnen vom "Wunder von Bern"- Ensemble. (Foto: Daniel Bockwoldt/dpa)

Detlef Leistenschneider und Vera Bolten als zwölf Jahre getrenntes und entfremdetes Ehepaar Lubanski, David Jakobs und Marie-Anjes Lumpp als die großen Kinder mit eigenen Vorstellungen vom richtigen Leben im Kommunismus und auf dem Tanzboden, sowie die nur mit Vornamen geführte Premierenbesetzung für den Jungen Matthias, Riccardo, singen ihr Endspiel um Stolz und Zuneigung mit der richtigen Mischung aus Schauspiel und Schmalz.

Mit Nierentisch-Glamour und Alpen-Schick verquirlt

Während das musikalische Stilpotpourri aus Balladen-Moll, Rumtata, Revierschlagern und Rock'n'Roll von Komponist Martin Lingnau über weite Strecken wie reine Funktionsmusik klingt, die ihren anrührenden Zweck aber sicherlich erfüllen wird, ist es auch bei diesem Epos aus einer hässlichen Zeit die Attacke aus dem Hintergrund, die der Show den Sieg beschert.

Mit einer rasanten Maschinerie aus fahrenden Bühnenteilen und Videoillusionen, die brüchige Arbeiterhütten vor rauchenden Schloten mit Nierentisch-Glamour und Alpen-Schick verquirlt, gelingt es Bühnenbildner Jens Kilian, das Problem des "Staunens" erfolgreich zu bewältigen. Vor allem die Frage, wie man Fußball auf einer Theaterbühne so darstellt, dass es nicht beengt und piefig wirkt, hat Kilian brillant gelöst: Deutschland gegen Ungarn wird vertikal gespielt, auf einer Bühnenwand mit Videoeffekten und schwebenden Spielern. Ein echter Wow-Moment.

Immerhin wird auch viel gelacht

Aber wird diese doch gewagte Themenwahl als Unterhaltungsshow wirklich aufgehen? Will das klassische Zielpublikum aus den großen westlichen Bundesländern, das Hamburg-Pakete mit Musical-Besuch und Reeperbahnbummel bucht, wirklich in eine Zeit versetzt werden, wo Väter ihren Kindern den Po versohlten, Trümmerfrauen und Kumpels vom Schwarz-weiß-Fernsehen und einer Lambretta träumten und jungen Menschen die DDR als das bessere Deutschland erschien? Immerhin wird im "Wunder von Bern" auch viel gelacht, etwa wenn Reporter Ackermann zu seiner Frau von "der FIFA" spricht, und sie fragt "Welche Viecher?"

So hängt man die Vergangenheit an modernen Skandalen auf, so dass es Szenenapplaus gibt. Aber ob die Stage-Entertainment mit "Wunder von Bern" jetzt auch einen klasse Sportteil im Portfolio hat, das entscheiden am Ende allein die Fans. Glück auf.

© SZ vom 24.11.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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