Heinz Strunk: Der goldene Handschuh Heinz Strunk wurde als Mitglied des Komiker-Trios "Studio Braun" bekannt und schrieb mehrere autobiographisch gefärbte Romane, bevor er dieses Frühjahr mit "Der Goldene Handschuh" für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert wurde. Darin erzählt er die Geschichte des Serienmörders Fritz Honka, der in den Siebzigerjahren in Hamburg sein Unwesen trieb. In der schimmeligen Boxerkneipe "Der goldene Handschuh", die noch immer existiert, lernte Honka die Gelegenheitsprostituierten kennen, die er später in seiner überheizten Dachwohnung ermordete. Heinz Strunk gelingt es, die hohle Phrase vom "Scheitern als Chance" als das zu entlarven, was sie ist: hohntriefender Dünkel, zumindest hier an Orten wie dem Goldenen Handschuh. Das Buch analysiert nichts, dazu ist es genauso ohnmächtig wie seine Opfer, distanziert sich aber auch nicht von ihnen, und es leistet sich ihnen gegenüber auch nur so viel Empathie, wie nötig ist, um zu erkennen: Brauchst gar nicht wegzuschauen, das könntest nämlich genauso gut auch du sein. Lesen Sie hier die vollständige Rezension von Tex Rubinowitz.
Jonathan Safran Foer: Hier bin ich Was macht einen Menschen glücklich? Familie, Kinder, Ehe? Und was passiert, wenn all das auf einmal zerbricht? Jonathan Safran Foer widmet sich diesen Fragen in "Hier bin ich", seinem dritten Roman nach "Alles ist erleuchtet" und "Extrem laut und unglaublich nah". Vieles trägt autobiografische Züge: Foer kommt, wie sein Protagonist Jacob, aus einer jüdischen Familie und ist seit Kurzem geschieden. Trotzdem erzählt "Hier bin ich" eine universelle Geschichte - über Trennung und Leben, die sich von einem Moment zum anderen wandeln. Foer packt die großen Fragen nach Glück, Heimat und Zufriedenheit in die für ihn typischen gewieften Dialoge und spitzen Pointen. Aber nun klingen sie ziemlich erwachsen. Lesen Sie hier eine ausführliche Rezension von Jörg Häntzschel.
Carolin Emcke: Gegen den Hass Woher rühren Hass, Fanatismus und politische Gewalt? Mit diesen Fragen setzt sich Carolin Emcke in "Gegen den Hass" auseinander. In ihrem Essay geht es der diesjährigen Friedenspreisträgerin ebenso darum, die Angst vor dem Andersartigen zu beleuchten wie ein Lob auf die Vielfalt auszusprechen. In der Jurybegründung heißt es, Carolin Emcke appelliere "mit analytischer Empathie" an das Vermögen aller, "zu Verständigung und Austausch zurückzufinden". Ihre Aufmerksamkeit gelte Momenten und Situationen, in denen das Gespräch abzubrechen drohe. In ihrem Buch folgt sie einem Credo, das sie auch in ihrer Dankesrede in der Frankfurter Paulskirche formulierte: "Wir dürfen uns nicht sprachlos machen lassen."
Elena Ferrante: Meine geniale Freundin Elena Ferrante und ihre Enttarnung waren die Literatursensation des Herbstes. Aber "Meine geniale Freundin", der erste Band der "Neapolitanischen Suite", der 2016 auf Deutsch erschien, wäre auch ohne die Spekulationen um seine Urheberin der Lektüre wert. Es geht um die besondere Beziehung zwischen Elena Greco ("Lenù") und Raffaella Cerullo ("Lila"). Die beiden sind grundverschieden, doch ist ihre Freundschaft stark genug, sämtliche Männergeschichten, Schwangerschaften und Karriereentwicklungen über mehr als vierzig Jahre auszuhalten. Das alles spielt sich ab vor dem Hintergrund der jüngeren italienischen Geschichte - vom Fiat 1100 über die Kampfschriften der Feministin Carla Lonzi aus den 70er-Jahren bis zu den Korruptionsskandalen der 90er-Jahre. "Meine geniale Freundin" und seine drei Nachfolger oszillieren zwischen Unterhaltung und großer Literatur, darin liegt ihr Erfolg. Sie entwickeln Seifenopern-Sog und bieten doch brillante Einsichten und tiefgründigen Lesegenuss. Lesen Sie hier die ausführliche Rezension von Thomas Steinfeld.
Christian Kracht: Die Toten Christian Krachts neuer Roman spielt um 1933 und verknüpft die Geschichten eines Schweizer Filmregisseurs und eines japanischen Kulturbeamten. Ersterer möchte einen Gruselfilm in Japan drehen, letzterer dem amerikanischen Kulturimperialismus trotzen. Aber die Handlung ist nur Aufhänger für Kracht-typische Anspielungen, Verweise und Umdichtungen aller Art - von Siegfried Kracauer bis Heinz Rühmann. Das Vertrackte: Man wird weder glücklich, wenn man diese Prosa zu ironisch liest, noch dann, wenn man sie zu ernst nimmt. Lesen Sie hier die ausführliche Rezension von Jens-Christian Rabe.
Don De Lillo: Null K Der Tod ist in allen Büchern von Don DeLillo die geheime Hauptfigur. Doch so direkt wie in seinem neuen Roman, in dem es um die Abschaffung des Todes geht, hat DeLillo ihm noch nie ins Auge gesehen. In "Null K" geht es um Superreiche, die sich in der kasachischen Steppe in den vorläufigen Tod verabschieden. Kurz vor ihrem biologischen Ende lassen sie sich einfrieren, um die spätere Wiedergeburt zu erleichtern. Auch die Stiefmutter des Ich-Erzählers sieht diesem Schicksal entgegen. Doch bis "es" geschieht, vergehen Tage des Wartens, die Zeit kommt fast zum Stillstand. Und auch der Leser versinkt in den Kapiteln wie in einem schweren, verstörenden Traum. Lesen Sie hier die Rezension von Jörg Häntzschel.
Juli Zeh: Unterleuten Einsamkeit ist anderswo, aber nicht im fiktiven Dorf Unterleuten in der Prignitz. Juli Zeh schildert in ihrem voluminösen Roman wie seltsam die Leute in "Unterleuten" sind - und wie sich spinnefeind. Als dann auch noch Zuzügler aus Berlin kommen, ist alles angerichtet für den Krieg auf dem Land, in dem es um Nutzflächen, Windräder und viel Geld, Ehefrust, Abhängigkeiten und Neurosen geht. Lesen Sie hier eine ausführliche Rezension von Jörg Magenau.
Orhan Pamuk: Diese Fremdheit in mir Ins Zentrum von Orhan Pamuks jüngstem Werk rückt die Klage um die Verwandlung und Zerstörung des alten Istanbuls. Boza, der Alkohol, der je nach Betrachtungsweise gar keiner ist, wird zum Symbol für gelebte Toleranz und friedvolles Miteinander - aber keiner will ihn mehr trinken. Boza, so könnte man auch sagen, ist die Super-Metapher für diesen Roman selbst. Dessen tatsächlicher Gehalt erschließt sich erst, wenn der Leser die Handlung Handlung sein lässt und, wie die Hauptfigur Mevlut, ein bisschen hinter die Fassaden schaut. Lesen Sie hier eine ausführliche Rezension von Christoph Bartmann.
Bruce Springsteen: Born to Run Die Legende hat ihre Legende aufgeschrieben: Bruce Springsteens beinahe 700 Seiten starke Autobiografie erfüllt all das, was man vom Boss erwartet: Roadmovie, großer amerikanischer Roman, Schundheftchen und wildes, lebensbejahendes Fest. Es ist das Porträt eines Zerrissenen, eines "manisch-depressiven Trapezkünstlers", wie Springsteen sich selbst beschreibt. Aber auch eines Mannes, der sich selbst als Illustionskünstler entzaubert. Lesen Sie hier eine ausführliche Rezension des amerikanischen Schriftstellers Richard Ford (mit SZ Plus).
Deborah Feldman: Unorthodox In ihrem Roman erzählt die jüdische Autorin Deborah Feldman, wie sie der religiösen Sekte ihrer Kindheit entkam und eine neue Heimat im verbotenen Deutschland fand. Sie sagt selbst: "Zu meiner Familie habe ich keinen Kontakt. Ich gelte als Verräterin." "Unorthodox" ist Feldmans berührende Geschichte einer beklemmenden Kindheit, Zwangsehe und Flucht. Lesen Sie hier ein Interview mit Deborah Feldman mit SZ Plus.
Thomas Melle: Die Welt im Rücken Reiz und Risiko liegen hier nah beieinander. Melles Roman, mit dem er auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis landete, hat mehr von einem Selbstversuch als von einem Krankheitsbericht. Es geht um seine eigene manisch-depressive Erkrankung. Als Maniker hat Melle, zumindest in seinem Kopf, Sex mit Madonna und glaubt Hans Magnus Enzensberger im Zug zu erkennen. "Die Welt im Rücken" ist kein Roman, sondern blitzhelle Stroboskop-Prosa. Lesen Sie hier eine ausführliche Rezension von Christopher Schmidt.
Han Kang: Die Vegetarierin Wasser und Sonne - das ist alles, wonach Yeong-Hye, die Protagonistin in Han Kangs Roman "Die Vegetarierin", sich sehnt. Ihr selbstzerstörerisches Antiheldentum gründet in dem Wunsch, sich in eine Pflanze zu verwandeln. Auf dem Weg dahin sondiert der Roman die Abgründe einer patriarchalischen Gesellschaft. Denn Yeong-Hyes Geschichte ist die Geschichte einer Rebellion durch Verweigerung. In Südkorea ist Han Kangs Roman bereits vor neun Jahren erschienen, im vergangenen Jahr erhielt er den Man Booker International Prize, nun wurde er ins Deutsche übersetzt. Lesen Sie hier die ausführliche Rezension von Karin Janker.
Philipp Winkler: Hool Philipp Winklers Debütroman ist ein Buch über Männer, die nicht Schritt halten können mit der Gegenwart. "Hool" zeichnet das Porträt eines gesellschaftlichen Außenseiters und Verlierers, der sich an männliche Kameradschaftsfantasien klammert und dabei selbst zerstört. Denn mit 27 hat Winklers Hauptfigur Heiko nichts im Leben außer seinen Freunden, seinem Verein Hannover 96 und einem Job im Fitnessstudio - seine Freundin ist ihm weggelaufen. Philipp Winkler schildert in seinem Roman eine Männerwelt, "mal weiß wie Pommessalz, mal grau wie Beton", die im letzten Aufbäumen in den nächsten Gang schaltet. Wie sein Protagonist Heiko streift sich der Roman erzählerisch die Lederjacke eines Streetworkers über und begleitet seinen Protagonisten in die stinkenden Fußballkneipen. Lesen Sie hier die ausführliche Rezension von Philipp Bovermann.
Didier Eribon: Rückkehr nach Reims Ein Vater stirbt. Ein Sohn macht sich auf die Suche. Was nach einem Roman- oder Filmanfang klingt, ist der autobiografische Kern eines unglaublich spannenden und bestürzend aktuellen soziopolitologischen Sachbuchs: Didier Eribon, kosmopolitischer, schwuler Pariser Soziologe, hatte mit seiner homophoben Familie radikal gebrochen. Mit über fünfzig kehrt er erstmals in seine Heimatstadt Reims zurück, sucht, mit der Mutter das Fotoalbum durchgehend, nach Spuren seiner proletarischen Kindheit. Eine Studie über Herkunftsverleugnung, sexuelle und soziale Scham und die alles entscheidenden feinen Unterschiede in der französischen Elite. Ein autobiografischer Text, der sehr diskret und nie narzisstisch ist. Verstörend und aufschlussreich in Zeiten von Brexit und Populismus. Lesen Sie hier eine ausführliche Rezension von Alex Rühle mit SZ Plus - und hier, ebenfalls mit SZ Plus, ein Interview mit dem Soziologen.
Colm Tóibín: Nora Webster Als ihr Mann Maurice stirbt, muss Nora Webster, Titelfigur in Colm Tóibíns neuem Roman, auf einmal alles alleine stemmen: Job, Haushalt, Kinder. Nora Webster ist eine ebenso einfache wie erstaunliche Frau aus dem Süden Irlands. Bald befreit sie sich vom Muttersein. Wie ihre Ahninnen Anna Karenina, Effi Briest oder Emma Bovary gehört sie schon jetzt in die Galerie der unsterblichen literarischen Frauengestalten. "Nora Webster" ist ein großer Entwicklungsroman über eine Frau in einem über Jahrhunderte unterentwickelten und fremdbestimmten Land, ein stilles Meisterwerk. Lesen Sie hier die ausführliche Rezension von Christopher Schmidt.