Die Reise führt zurück in eine verlorene Zeit, und die Nostalgie, die sie antreibt, muss gewaltig sein. Denn die Vergangenheit, um die es hier geht, ist gleich mehrfach fiktionalisiert und überhöht. Im ersten Schritt erzählt der Film von einem Schriftsteller, der selbst schon tot ist - nicht mehr als eine Bronzebüste in einer Fußgängerzone, irgendwo im neuen, inzwischen EU-kompatiblen, gesichtslosen ehemaligen ehemaligen Ostblock.
Sodann springt Wes Anderson zurück in das Jahr 1968, in die große Zeit jenes Autors, der in diesem Moment von Jude Law gespielt wird. Wir finden ihn in einem ehemals glorreichen Grandhotel des Habsburger Kaiserreichs, dem "Grand Budapest Hotel". Welches aber, nun irgendwo mitten im Sozialismus gelegen, wild modernisiert in schrillen Sixties-Farben, nahezu leersteht.
Hier entdeckt der Autor die Geschichte, die ihn bekannt machen wird - und der Film findet sein Thema. Die Ironie dabei ist, dass man als Zuschauer selbst in diese entvölkerte Hotelruine sofort begeistert einchecken würde - so liebevoll-besessen hat der Regisseur Wes Anderson hier den Verfall inszeniert. In der Bäderabteilung mit den Schlammbädern stammen die Wannen und Armaturen wirklich noch aus Kaisers Zeiten, und der Gast ist dort mit einem mysteriösen Greis allein. Im ebenfalls völlig leeren Speisesaal beeindruckt ein gewaltiges alpines Wandpanorama: nicht mit röhrendem Hirsch, aber immerhin mit einem Steinbock auf unmöglich spitzer Felszacke und einem dramatischen Wasserfall.
Sammelsurium von Old-Europe-Traumbildern
Hier geschieht es dann, dass der Greis - Mister Moustafa alias F. Murray Abraham - so richtig ins Reden kommt. Er stellt sich als Besitzer des Hotels vor, das irgendwie doch nicht völlig enteignet ist, und enthüllt eine phantastische Rags-to-Riches-Geschichte. Denn angefangen hat er im "Grand Budapest" im Jahr 1932, ganz unten, als Page - ein Flüchtlingsjunge ohne einen Heller in der Tasche. Sein Lehrer aber war der geniale Concierge Monsieur Gustave (Ralph Fiennes), und von den Abenteuern dieser beiden handelt der Film.
Nicht ohne Grund sind sie Legenden des Hotelgeschäfts. "Ich bin gespannt wie ein Flitzebogen", sagt Jude Law, als er die Einleitung dieser Geschichte hört - und er sagt es tatsächlich auf Deutsch, was einen drolligen Effekt ergibt. Man fragt sich, wie diese Dinge in den Film geraten sind. War es vielleicht doch der Genius loci - der Dreh in Studio Babelsberg und in vor allem in Görlitz, wo ein altes Jugendstil-Kaufhaus ins "Grand Budapest Hotel" verwandelt wurde -, der auf Wes Anderson abgefärbt hat? Vielleicht.
Andererseits gibt er an, von Anfang an vor allem von Stefan Zweig inspiriert gewesen zu sein. Tatsächlich findet sich in diesem Film, der in der fiktiven "Republik Zubrowska" spielt, ein solches Sammelsurium von Old-Europe-Traumbildern, dass die Geografie verschwimmt. Die Aussichtsplattform des Hotels liegt hochalpin in den Wolken, die Ortsnamen drumherum klingen fast satirisch krachledern, der lokale Zuckerbäcker, in dessen Verkäuferin sich der junge Page unsterblich verliebt, muss eigentlich Wiener sein, und die Soldatentrupps, die bald das Sommerfrische-Idyll der Dreißigerjahre stören, sind eindeutig faschistisch. Enden muss das Ganze aber, das weiß man ja schon, hinter dem Eisernen Vorhang.
Tausendfach verschachtelte, liebevoll ausstaffierte Hirnwindungen
Mehr als alles andere gibt das Einblick in die wilde Phantasie des Wes Anderson - und die ist zwar sehr amerikanisch, aber doch auch der weiten Welt und der Glorie der Vergangenheit zugewandt, und zwar ganz herzlich. Seine Exkursion ins ehemalige Reich der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie erinnert an seinen Trip ins postkoloniale Indien in "Darjeeling Limited" (2007): Auch hier reist er vor allem, um bei den Bildern im eigenen Kopf anzukommen. Weil das aber ein sehr smarter, freundlich-ironischer Kopf ist, mit tausendfach verschachtelten, liebevoll ausstaffierten Hirnwindungen, ist es doch immer wieder ein wundervolles Vergnügen, ihm zu folgen.
In diesem Fall führen die Windungen in ein wildes Kriminalstück. Stammgast im Hotel ist eine steinreiche, hochneurotische Dame (Tilda Swinton), der Ralph Fiennes als herrlich bisexueller Concierge auch erotisch zu Diensten ist. Sie kommt auf mysteriöse Weise ums Leben, bedenkt ihn aber spektakulär in ihrem Testament, das alsbald verschwindet. Böse Erben sinnen auf Rache, ein finsterer Killer wird aktiv, und die Kurzauftritte der Stars (Adrien Brody, Jeff Goldblum, Willem Dafoe, Léa Seydoux, Bill Murray, Edward Norton, Harvey Keitel) jagen sich in schneller Folge.
Alle Wettbewerbsfilme der Berlinale 2014:Am Kreuzweg zur Gewalt
Viele Filme der Berlinale spüren der Verzweiflung in Gesellschaften nach, die sich und ihre Werte aufgegeben haben. Ob im krisengeschüttelten Griechenland, in der Macho-Welt Argentiniens oder im aufstrebenden China - überall wächst die Einsamkeit.
Besonders hübsch ist eine Sequenz, in der ein internationales Netzwerk von Grand-Hotel-Concierges aktiv wird, um dem bedrohten Kollegen beizustehen. Am Ende übernimmt der Faschismus auch hier die Macht, aber politisch aufgeladen ist diese Geschichte nur ganz nebenbei. Man muss sich die Dinge ja nicht unnötig schwer machen - selbst Zuckerbäckerei kann bei Wes Anderson eine würdevolle Kunstform sein.
Auf jeden Fall ist "Grand Budapest Hotel" der glanzvollste Berlinale-Eröffnungsfilm seit sehr langer Zeit - getrieben von einem Erzählgefühl, das überzeugt ist, immer schon zu spät zu kommen. "In Wahrheit war seine Welt schon verschwunden, lange bevor er sie betreten hat", heißt es am Ende einmal über den großen Concierge. Ähnlich dachte schon Stefan Zweig, ähnlich denkt sicher auch Wes Anderson über sich selbst. Aber auch beim ihm wird dieses Gefühl natürlich nicht stehenbleiben. Schon in zwanzig, dreißig Jahren könnte ein neuer Erzähler die Bühne betreten, um von der Zeit zu berichten, als der große Wes Anderson einmal nach Görlitz kam ... Die Nostalgie in seinen Worten, so viel ist jetzt schon sicher, wird gewaltig sein.