Mit einer Online-Petition wehren sich bayerische Schüler gegen den Schwierigkeitsgrad des Mathe-Abiturs. Wer genau zu den Unterzeichnern gehört, lässt sich allerdings kaum nachprüfen, denn um auf der Plattform change.org eine Petition zu unterzeichen, reicht die Angabe einer E-Mail-Adresse. Claudia Ritzi, Professorin für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Universität Trier, spricht im Interview über die Glaubwürdigkeit und den Sinn dieser Petitionen.
SZ: Frau Prof. Dr. Ritzi, die Petition zum bayerischen Mathe-Abitur hat mittlerweile gut 68 000 Unterzeichner. Das können nicht nur die Abiturienten sein.
Claudia Ritzi: Das ist korrekt - aus politikwissenschaftlicher Perspektive aber auch kein Problem: Ich kann mich der Forderung nach einer Anpassung des Notenschnitts beispielsweise auch als Elternteil eines betroffenen Kindes anschließen. Oder als frühere Abiturientin, die nachvollziehen kann, dass Prüflinge unzufrieden sind, wenn sie den Eindruck haben, dass die Aufgaben unüblich schwer waren.
Man muss also nicht selbst betroffen sein, um sich an der Petition beteiligen zu können?
In einer Demokratie dürfen alle mitreden. Nicht nur diejenigen, die unmittelbar betroffen sind. Meine Unterzeichnung der Petition wird nicht per se dadurch delegitimiert, dass ich kein Abitur geschrieben habe. Die Grundidee einer Petition ist es, politische Handlungen oder Entscheidungen mit Blick auf eine konkrete Frage zu beeinflussen. Ich kann mich ja auch für den Ausbau einer Autobahn einsetzten, obwohl ich selber kein Auto besitze.
Wie wirken sich Online-Petitionen damit heute auf die Demokratie aus?
Petitionen gab es als Beteiligungsinstrument schon lange vor dem Internet und es war immer vergleichsweise leicht, sich daran zu beteiligen - auch als wir noch an der Supermarktkasse unterschrieben haben. Im Internet setzt sich das jetzt logisch fort. Das kann die Demokratie sehr lebendig machen, weil es Hürden abbaut: Ich muss beispielsweise kein Parteimitglied werden, keinen Mitgliedschaftsbeitrag zahlen und kann mich trotzdem mit anderen verbünden und artikulieren. Die Petitionen haben aber, wie die meisten Beteiligungsformen, natürlich Licht- und Schattenseiten.
Welche sind das?
Wir müssen lernen, solche Beteiligungsformen und ihre Nutzung richtig einzuordnen. Wir müssen merken, wo wir die neue digitale Offenheit nutzen können, und uns gleichzeitig klarmachen, was wir tun müssen, um falsche Eindrücke nicht zu einflussreich werden zu lassen.
Im konkreten Fall ist ein Problem: Um seine Identität zu verifizieren, genügt der Plattform change.org eine E-Mail-Adresse. Wer mehrere Mail-Adressen besitzt, könnte also auch mehrfach abstimmen.
Das ist ein technisches Problem solcher Online-Petitionen: Es gibt nicht immer eine eindeutige Authentifizierung. Manipulation im System, zum Beispiel mit mehreren Mail-Adressen, ist bei vielen Plattformen möglich. Aber change.org ist auch kein offizielles oder staatliches Sprachrohr. Wer beispielsweise beim Bundestag eine Petition einreichen will, muss sich nach einem formalen Verfahren registrieren.
Wird die Online-Petition dadurch unglaubwürdig?
Richtig ist: Wir wissen nicht genau, wie viele Leute unterzeichnet haben. Bei privaten Initiativen wie der Petition der Schüler auf change.org geht es aber auch gar nicht um direkten politischen Einfluss. Solche Petitionen können wir als Seismografen verstehen: Sie geben uns Aufschluss darüber, wie brisant ein Thema ist, ob es viele Menschen mobilisieren kann und wie viel Aufmerksamkeit es bekommt.
Wie sinnvoll ist sie dann für die Schülerinnen und Schüler, die eine Veränderung anstreben?
Es ist ein guter Weg für sie, sich zu artikulieren. Mit dem schönen Effekt, dass man sie schnell starten und dann schauen kann, ob man mit einem Thema allein ist, oder ob es viele interessiert. Interessiert es viele, berichten vielleicht die Massenmedien und der Druck auf die Politik wächst. So kann eine Petition einen politischen Diskurs auslösen. Politischer Erfolg hängt aber nicht nur von der Lautstärke ab, sondern auch vom Echo.
Eine Online-Petition nimmt man aber gefühlt viel stärker wahr als eine Unterschriftenliste auf der Straße.
Man muss das natürlich relativieren: 50 000 Online-Petitionsunterschriften sind nicht gleich 50 000 Demonstranten. Aber die Zahl ist dennoch beeindruckend und spricht dafür, die Belange der Schülerinnen und Schüler erst einmal ernst zu nehmen und vor diesem Hintergrund die Korrekturergebnisse zu reflektieren.
Besteht die Gefahr, dass Online-Petitionen durch die schiere Masse, die es mittlerweile gibt, eher ignoriert werden als Aufmerksamkeit zu bringen?
Die Möglichkeiten zur Aufnahme und Verarbeitung in einer Gesellschaft sind und bleiben begrenzt. Das Internet bietet aber Chancen, hierarchiefrei die eigene Position für andere zugänglich zu machen und Einfluss auf das politische System zu nehmen. Habermas spricht der politischen Öffentlichkeit auch die Funktion eines Filters zu: Die Zivilgesellschaft artikuliert hier vielfältige Interessen, Positionen und Perspektiven. Und im Verlauf der öffentlichen Debatte stellt sich dann heraus, welche davon Relevanz und Überzeugungskraft besitzen.